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Beitrag vom 16.02.2020
Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya, Nancy Fraser Crispin – Feminismus für die 99 %. Ein Manifest
Doris Hermanns
Wollen wir weiterhin einen liberalen Feminismus, in dem es darum geht, dass einzelne Frauen auf der Karriereleiter weiterkommen oder wollen wir einen radikalen Feminismus, der Verbesserungen und ein gutes Leben für alle anstrebt? Mit dieser Frage beschäftigt sich das Manifest des Feminismus für die 99 %.
Die drei Autorinnen gehen davon aus, dass wir heute an einer Weggabelung stehen: Wollen wir einen liberalen Feminismus, mit seiner auf "Chancengleichheit beruhenden Herrschaft" oder setzen wir uns für einen radikalen Feminismus ein, um "dem Kapitalismus ein Ende zu setzen". Der liberale Weg, in der es um das Weiterkommen einzelner Frauen (das eine Prozent) und deren Herrschaft geht, führt – wie wir täglich erleben – "zu einem verbrannten Planeten, wo menschliches Leben bis zur Unkenntlichkeit verelendet, wenn es überhaupt möglich bleibt." Die Alternative, die sie aufzeigen steht für einen Weg in "eine gerechte Welt, in der Wohlstand und natürliche Ressourcen von allen geteilt werden und in der Gleichheit und Freiheit nicht Ziel, sondern Ausgangspunkt sind" - also ein Feminismus, der nicht nur vereinzelte Frauen in Machtpositionen verhilft, sondern um die Verbesserung der Lebensbedingungen von 99 % der Menschheit.
Anhand der aktuellen optimistisch stimmenden weltweiten Streikbewegungen von Frauen als Reaktion auf die Krise epochalen Ausmaßes zeigen sie auf, dass derzeit vor allem Frauen diejenigen sind, die sich nicht nur für bessere Löhne und Arbeitszeiten einsetzen, sondern auch gleichzeitig gegen sexuelle Belästigungen und Übergriffe zur Wehr setzen und neue Streikformen entwickeln. Von dieser Streikwelle, die aus dem Schmelztiegel praktischer Erfahrungen hervorgeht, wurden die Autorinnen zum "Feminismus für die 99 %" inspiriert, der die Sache aller vertritt, "die ausgebeutet, beherrscht und unterdrückt werden, und hofft, eine Hoffnungsquelle für die gesamte Menschheit zu sein."
In elf Thesen gehen die Autorinnen auf heutige Situation ein. Themen sind dabei u. a. Kapitalismus, "geschlechtsspezifische Gewalt", Sexualität, Rassismus und Kolonialismus, sowie die Zerstörung der Erde. Sie erklären dabei im Wesentlichen den Bankrott sowohl des reaktionären Populismus, als auch des fortschrittlichen Neoliberalismus. Diese beiden Strömungen stellen sie immer wieder gegenüber und erläutern, warum diese beide nicht nur gescheitert sind, sondern zur heutigen Krise geführt haben, die "das Leben, wie wir es bisher gekannt haben" bedroht. Ihr Streben ist es, diese Krise nicht nur zu verwalten, sondern sie zu überwinden.
Als Inspiration für dieses Manifest diente ihnen das Manifest der kommunistischen Partei von Karl Marx und Friedrich Engels. Dass sich die Verhältnisse seit dessen Erscheinen 1848 geändert haben, ist den Autorinnen natürlich klar, aber es geht ihnen um jegliche Ausbeutung, Herrschaft und Entfremdung. Dabei bleiben sie nicht wie damals bei der Lohnarbeit stehen, sondern beziehen auch die Reproduktionsarbeit in ihre Überlegungen ein. Das Problem bei dieser Herangehensweise ist, dass sie den Kapitalismus als Grundursache der heutigen Krise sehen, nicht aber das Patriarchat, auf dem der Kapitalismus aufbaut, auch wenn sie davon sprechen, dass der Kapitalismus "jedoch neue, dezidierte moderne Formen des Sexismus geschaffen , untermauert von neuen institutionellen Strukturen", ohne weiter auf die älteren Formen des Sexismus zu verweisen. So sprechen sie z. B. von "Sexarbeiterinnen", ohne Prostitution grundsätzlich in Frage zu stellen, die auch eine Form von Ausbeutung, Herrschaft und Entfremdung ist – und Auswirkungen auf alle Frauen hat. Wie sie auch von "geschlechtsspezifischer Gewalt" sprechen, statt von Männergewalt – über die sie dann aber schreiben, deren Ursache sie auch in den kapitalistischen Gesellschaftsverhältnissen sehen, als ob es diese nicht auch vorher bereits gegeben hätte. An manchen Stellen wäre eine deutlichere Wortwahl statt diesen Verschleierungen wünschenswert.
Wichtig hingegen ist ihre Aussage zum "Plusmachen" (Profite der Unternehmen) und "Menschenmachen" (Reproduktion): "Die entlohnte Arbeit des Plusmachens könnte es ohne die (überwiegend) nicht entlohnte Arbeit des Menschenmachens nicht geben." Und sie zeigen auf, dass die kapitalistischen Institutionen der Lohnarbeit die Spuren ihrer eigenen Entstehung verdeckt, "jene gesellschaftlich-reproduktive Arbeit, die ihre Möglichkeitsbedingung ist."
Zusammenfassend befinden die Autorinnen, dass es einer umfassenden Neuordnung der Verhältnisse von Produktion und Reproduktion bedarf, und sie sprechen sich aus "für eine Welt, in der Menschen jeglichen Geschlechts, jeglicher Nationalität, jeglicher sexueller Orientierung und Hautfarbe gesellschaftlich-reproduktive Tätigkeiten mit sicherer, gut bezahlter und belästigungsfreier Lohnarbeit kombinieren können." Dabei verlieren sie weder den Kolonialismus noch die Umwelt aus den Augen und kommen zu dem Schluss: "Wir müssen uns vor allem auch mit den linken, antikapitalistischen Strömungen jener Bewegungen verbünden, die ebenfalls für die 99 Prozent eintreten."
Auch wenn ich dies für grundsätzlich richtig halte, scheint es mir fraglich, in wie weit es in diesen Strömungen deutlich ist, dass Feminismus nötig ist für diese Neuordnung, denn wie viele Männer setzen sich damit schon auseinander?
AVIVA-Tipp: Die drei Autorinnen decken in ihrem Manifest auf sehr umfassende und engagierte Art prägnant die Ursachen der globalen Krise auf und gehen dabei auch auf konkrete Aktionen der Frauenbewegung ein. Dass sie dabei das Patriarchat übersehen, das weitaus älter ist als der Kapitalismus, ist dabei ihr blinder Fleck, dass sie sich aber deutlich von der liberalen Frauenbewegung abgrenzen und aufzeigen, dass wir mehr Radikalität brauchen, ist die Stärke dieses Manifests. Wichtig auch, dass sie dabei die ganze Welt im Blick haben und nicht nur das Weiterkommen vereinzelter Frauen im Westen.
Zu den Autorinnen:
Cinzia Arruzza ist außerordentliche Professorin für Philosophie an der New School for Social Research. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit antiker Metaphysik sowie feministischer Theorie und Marxismus.
Tithi Bhattacharya ist Professorin für Südasiatische Geschichte und Leiterin der Global Studies an der Purdue University. Sie schreibt über marxistische Theorie, Geschlecht und die Politik der Islamophobie.
Nancy Fraser ist Professorin für Politikwissenschaften und Philosophie an der New School in New York City. Sie zählt zu den prominentesten feministischen Theoretikerinnen der Gegenwart.
Zum Übersetzer: Max Henninger, 1978 in München geboren, lebt, nach Aufenthalten in den USA und Großbritannien, seit 2006 in Berlin und arbeitet dort als Konferenzdolmetscher und Übersetzer aus dem Englischen, Italienischen und Französischen. Seine Sammlung politischer Essays "Armut Arbeit Entwicklung" erschien 2017 im Wiener Mandelbaum Verlag.
Cinzia Arruzza, Tithi Bhattacharya, Nancy Fraser
Feminismus für die 99 %. Ein Manifest
Originaltitel: Feminism for the 99%. A Manifesto
Aus dem Englischen von Max Henninger
MSB Matthes & Seitz, erschienen 2019
Klappenbroschur. 107 Seiten
ISBN 978-3-95757-786-3
Euro 15,00
Zum Buch: www.matthes-seitz-berlin.de
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Jessa Crispin - Warum ich keine Feministin bin. Ein feministisches Manifest
"Was im Titel und Untertitel erst einmal widersprüchlich wirkt, klärt sich im Buch schnell auf: Nichts weniger als eine radikale Veränderung wünscht sich Crispin, eine Revolution, die zu grundlegenden Verbesserungen für alle führt." (2019)
Mira Sigel, Manuela Schon, Ariane Panther, Caroline Werner, Huschka Mau (Hrsg.). Störenfriedas - Feminismus radikal gedacht
"Wir betrachten Probleme von der Wurzel an – und die Wurzel der Frauenunterdrückung ist das Patriarchat. Dieses gilt es zu kritisieren, in all seinen Formen". Die Autorinnen und Bloggerinnen dieser Textsammlung verstehen sich als Radikalfeministinnen. Ihr gemeinsamer Nenner: Ihr Kampf gegen alle Formen des Alltagssexismus, sexistische Werbung, Gewalt gegen Frauen, Pornographie und die Objektifizierung von Frauen. (2018)