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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 29.06.2020


Maryse Condé - Das ungeschminkte Leben. Autobiographie
Helga Egetenmeier

Maryse Condé, 1937 in Guadeloupe geboren und 2018 mit dem Alternativen Literaturpreis ausgezeichnet, ist eine der wichtigsten politischen Autor*innen des französischen Sprachraums. In ihrer Autobiographie beschreibt sie ihre Erfahrungen mit Rassismus, Sexismus und politischer Willkür ebenso, wie...




... Auseinandersetzungen um Kolonialismus. Sie nimmt dabei die 1960er Jahre in den Mittelpunkt, in denen sie überwiegend in West-Afrika lebte und arbeitete.

Sie sei keine "frühreife Schreiberin" gewesen, erklärt Maryse Condé, deren erster Roman "Heremakhonon" 1976 erschien. Ins Englische übersetzt wurde diese Auseinandersetzung mit der westafrikanischen Politik von Richard Philcrox, ihrem zweiten Ehemann. Sie lernte ihn bei ihrer letzten Anstellung als Lehrerin in Afrika, im Senegal, kennen und beendet mit dieser Begegnung auch ihre hier vorgestellte Autobiographie, die sie mit dem Hinweis, "Mein derzeitiges Leben will ich aussparen, es ist undramatisch..." beginnt.

Maryse Condé - von Guadeloupe nach Frankreich

Auch wenn sie den Fokus ihrer Autobiographie auf ihr Leben in Afrika legt, gibt sie zu Beginn des Buches einen kurzen Einblick in ihre Kindheit auf Guadeloupe. Die Leser*innen, die mehr über ihre Sozialisation wissen möchten - und ihre kurze Schilderung macht durchaus neugierig - verweist sie auf ihre zwei Romane, "Le Coeur à rire et à pleurer" und "Victoire". In letzterem geht sie der Frage nach, wie es dazu kam, dass ihre unehelich geborene Mutter Jeanne zu einer "der ersten schwarzen Lehrerinnen ihrer Generation" wurde, obwohl deren Mutter Analphabetin war. Ihre Eltern beschreibt sie als "das erste schwarze Paar, das sich ein Auto leisten konnte", und sie, die Jüngste von acht Kindern, mit sechzehn Jahren zum Studium nach Paris schickten.

Bereits jung politisch interessiert, schreibt sie, noch nicht zwanzig Jahre alt, einen kritischen Leserinnenbrief zum Vorabdruck von Frantz Fanons "Schwarze Haut, weiße Masken". Daraufhin wird sie in die Redaktion eingeladen, um ihre Sicht auf die antillische Gesellschaft darzulegen. Etwas später lernt sie dann, immer noch in Paris, die Texte von Aimé Césaire kennen. Er begründete zusammen mit Léopold Sédar Senghor und Léon-Gontran Damas das Konzept der Négritude, mit dem sich Condé eingehend befasst und das ihr Interesse weckt, nach Afrika zu gehen.

In Paris trifft sie auch ihre erste große Liebe, den politisch aktiven, späteren Radiojournalisten Jean Dominique. Aus Haiti stammend, kritisiert er dessen korruptes Regime und setzt sich für die Menschenrechte ein. "Es war eine hochintellektuelle Liebe", erinnert sich Condé, dessen Verlust sie in ihrer Autobiographie immer wieder erwähnt. Durch Dominique bekommt sie Zugang zu politischen und literarischen Texten, die sich mit den Auswirkungen der Kolonialzeit auf die Bevölkerung Haitis beschäftigen. Doch 1956, als sie hochschwanger war, verlässt er sie, um in Haiti gegen den Präsidentschaftskandidaten Francois Duvalier zu kämpfen, der dort von 1957 bis 1986 eine Diktatur errichtete.

Ihre Zeit in Afrika - der Hintergrund für ihre Romane

Alleinerziehend und arm, geht sie im August 1958 ihre erste Ehe mit Mamadou Condé ein, einem Schauspielstudenten aus Guinea. Bereits nach drei Monaten trennen sie sich einvernehmlich zum ersten Mal und kommen später in Guinea wieder zusammen. Denn 1959 zieht es sie, schwanger mit ihrer ersten Tochter Sylvie-Anne und ausgestattet mit einem Diplom in Moderner Literaturwissenschaft, nach Afrika. Über das Ministerium für Entwicklungshilfe bekommt sie einen schlecht bezahlten Job als Hilfskraft für Französischunterricht am Collège von Bingerville in der Elfenbeinküste, die am 7. August 1960 die Unabhängigkeit von Frankreich erklärt.

Condé freut sich auf Afrika, einen Kontinent, den sie bis dahin nur aus der Literatur kennt. Sie will mit diesem Umzug ihre glücklose Vergangenheit hinter sich lassen und in Afrika ihre Fröhlichkeit wiederfinden. Statt dessen beginnen für sie, wie sie bereits zu Beginn des Buches andeutet, ihre turbulenten zehn Jahre in Afrika. Mit sympathischer Offenheit führt sie die Leser*innen durch ihre ereignisreiche Zeit in Westafrika. Sie erzählt, wie sie sich durch wechselnde Jobs kämpft, oft in Armut lebt, zwei weitere Töchter zur Welt bringt und neue Liebschaften hat, deren Beschreibungen gelegentlich nach sexueller Ausbeutung klingen.

Die neugierige und diskussionsfreudige Condé lernt ein Afrika kennen, dessen Vielfalt sie unterschätzt hatte, wie sie schreibt. So muss sie sich wegen ihrer Freundin Lina Tavares mit der Liebe zwischen "gemischten Paaren" auseinandersetzen, gegen die sie sich zu jener Zeit aussprach. Sie erlebt Guinea auf dem Weg in die Unabhängigkeit und die Kämpfe um die Macht im Staat, die zur Diktatur führen. Sie erfährt von Einschüchterungen und Folterungen ihrer politisch engagierten Lehrer*innenkollegen. Parallel dazu erzählt sie von der Freundschaft zu dem haitianischen Schriftsteller und Politiker Roger Dorsinville und ihren Begegnungen mit politischen Unabhängigkeitskämpfern, wie Amílcar Cabral - bei dem auch heute noch ihre Verehrung durchklingt. Den Schriftsteller und Regisseur Sembène Ousmane begleitet sie bei seiner Recherche zu seinem beeindruckenden erstem Langfilm "Die Schwarze aus Dakar" ("La Noire de...", erschienen 1966 und mit dem Prix Jean Vigo ausgezeichnet) durch die Dörfer Senegals.

Als sie nach dem Militärputsch in Ghana 1966 für kurze Zeit ins Gefängnis kommt, bleibt ihr dies auf Dauer im Gedächtnis hängen, wie sie schreibt. Sie kommt frei, um des Landes verwiesen zu werden, kann jedoch später rehabilitiert wieder zurückkehren. Diese Unterbrechung ihrer Zeit in Afrika führt sie nach London. Dort lernt sie durch ihre Freundschaft mit Aaron Bromberger die "Barbarei der Nazis" kennen. Über ihren ältesten Bruder erfahren wir dabei nur, dass er "in einem "Stammlager" umgekommen" ist. Ihr sei in diesem Zusammenhang "sofort die Ähnlichkeit zwischen dem Schicksal der Juden und der Schwarzen" aufgefallen, ein Gedanke, der sie seitdem nicht mehr losgelassen hätte und den sie als Thema in ihr Buch "Ich, Tituba, die schwarze Hexe von Salem" aufgenommen habe.

AVIVA-Tipp: Mit großer Leichtigkeit beschreibt Maryse Condé in ihrer beeindruckenden Autobiographie die schwierigste Zeit ihres Lebens, die sie zu der politisch-feministischen Schriftstellerin machte, die sie seit vielen Jahren ist. Sie erzählt über ihr Interesse an Literatur und politischer Theorie, ihre zehn Jahre mit vier Kindern in Afrika und ihre Verletzungen durch Rassismus und politischen Machtmissbrauch mit wachem Blick und ohne anzuklagen. Es ist ein Glücksfall, dass Maryse Condés Autobiographie nun auch auf Deutsch erschienen ist, sie macht zugleich neugierig auf ihr bisheriges literarisches Schaffen.

Zur Autorin: Maryse Condé, 1937 in Pointe-à-Pitre auf Guadeloupe geboren, ging mit 16 Jahren nach Paris, studierte Literaturwissenschaften an der Sorbonne und lebte danach mehrere Jahre in Westafrika. Sie unterrichtete u.a. an der Sorbonne, in Berkley und Maryland, und war ab 1995 Professorin für französische Sprache und Literatur an der Columbia University in New York. Seit der Gründung 1997 hatte sie den Vorsitz des Center for French an Francophone Studies bis zu ihrer Emeritierung 2002. Bekannt wurde sie durch die Familiensaga "Segu", in der sie die Geschichte der westafrikanischen Familie Traoré erzählt. Sie wurde für ihr Werk mit vielen Preisen ausgezeichnet und erhielt 2020 in Frankreich den nationalen Verdienstorden. Neben rund zwanzig Romanen hat sie auch Kinderbücher und Theaterstücke verfasst. Sie lebt in New York und Guadeloupe.

Auszeichnungen (eine Auswahl):
1986 Grand prix littéraire de la Femme für "Ich, Tituba: Schwarze Hexe von Salem" (1986)
1988 Prix Anais Ségalas de l´Académie francaise für "La vie scélérate" (1987)
1988 LiBeraturpreis für ihre Familiensage "Segu" (1984/1985)
1993 sie wurde als erste Frau Puterbaugh Fellow an der Universität von Oklahoma, USA
1997 Prix Carbet de la Caraibe et du Tout-Monde für "Desirada" (1997)
1999 Prix Marguerite Yourcenar für "Le Coeur à rire et à pleurer" (1999)
2009 für ihr Gesamtwerk: Trophée d´honneur des Arts Afro-Caribéens
2018 den Alternativen Literaturpreis der Neuen Akademie, der in diesem Jahr anstelle des Literatur-Nobelpreises vergeben wurde

Zur Übersetzerin: Beate Thill, in einer deutsch-französischen Familie aufgewachsen, studierte Anglistik und Geographie an der Universität Freiburg und arbeitete dann als Redakteurin bei der Dritte-Welt-Zeitschrift Blätter des iz3w. Um sich für "den Süden" zu engagieren, entschied sie sich 1983 dazu, freischaffende Literarische Übersetzerin für Französisch und Englisch zu werden, mit den Spezialgebieten der französischsprachigen Literatur aus der Karibik und Afrika. Sie wurde für ihre Übersetzerinnentätigkeit mehrfach ausgezeichnet, wie mit dem "Internationalen Literaturpreis 2014" für den Roman "Das Rätsel der Rückkehr" von Dany Laferrière, verliehen vom Haus der Kulturen der Welt, Berlin. Sie schreibt Texte über ihre Arbeit, arbeitet als Dolmetscherin und ist Mitglied im deutschen PEN.
Mehr Infos: www.beatethill.eu

Maryse Condé
Das ungeschminkte Leben. Autobiographie

Originaltitel: La vie sans fards (erschienen 2012)
Ãœbersetzerin: Beate Thill
Luchterhand, Mai 2020
Hardcover mit Schutzumschlag, gebunden, 304 Seiten
ISBN-13: 978-3-630-87633-7
22,00 Euro
www.randomhouse.de

Weitere Informationen unter:

www.deutschlandfunk.de
Der Deutschlandfunk stellt in einem ausführlichen Beitrag, und unter Verwendung eines Interviews, die Autobiographie von Maryse Condé vor. Dazu gibt es Links zu den Beiträgen über die Verleihung des Alternativen Literaturnobelpreises an Maryse Condé im Jahr 2018.

ile-en-ile.org
Auf dieser Seite wird Maryse Condé kurz vorgestellt, dazu gibt es die Liste ihrer Romane, Erzählungen, Theaterstücke, Kinderbücher und Aufsätze. Es werden die an sie verliehenen Preise aufgeführt, wie auch ihre ins Englische übersetzten Schriften, sowie Artikel, die sich mit ihrem Werk auseinandersetzen.

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Literatur

Beitrag vom 29.06.2020

Helga Egetenmeier