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Beitrag vom 10.07.2020
Ingeborg Boxhammer – Herrin ihrer selbst: Zahnkunst, Wahlrecht und Vegetarismus. Margarete Herz und ihr Freundinnen-Netzwerk
Doris Hermanns
In ihrem 2019 im Hentrich & Hentrich Verlag erschienenen Buch beschreibt die Journalistin und Autorin ("Marta Halusa und Margot Liu. Die lebenslange Liebe zweier Tänzerinnen" und "Das Begehren im Blick - Streifzüge durch 100 Jahre Lesbenfilmgeschichte") ein Freundinnen-Netzwerk zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, wobei sie ausführlich auf das Leben lediger Frauen und die Reformbewegungen, in denen sie aktiv waren, eingeht. Daneben zeichnet sie die Möglichkeiten nach, die Frauen im Deutschen Kaiserreich hatten, ihre eigenen Wege zu gehen und wirtschaftlich unabhängig zu sein.
Ingeborg Boxhammer entdeckte die beiden Frauennamen Margarete Herz (1872-1947) und Helene Wolff (1871-1917) unter einem Aufruf von 1912, der Bonner Frauen dazu aufforderte, gegen ihren Ausschluss vom Wahlrecht zu protestieren. Dies weckte die Neugierde der Autorin, wohnten diese beiden Frauen doch unter derselben Adresse in Bonn, wo sie zu dieser Zeit eine gemeinsame Zahnpraxis führten. So begab sie sich auf eine weitreichende Spurensuche, bei der sie auch noch auf weitere unangepasste Frauen aus dieser jüdischen Familie stieß. Als typisch für jüdische Familienstrukturen nennt Boxhammer hier Verwandtenehen, die den familiären Zusammenhalt und den eigenen Status stärken sollten.
Detailliert erzählt Boxhammer nicht nur die Geschichte der beiden Cousinen Margarete Herz und Helene Wolff, sondern von einem ganzen Netzwerk von Frauen, das sich von Berlin aus über das Ruhrgebiet bis an den Rhein und im Falle von Margarete, Alice und deren Tochter Helga bis ins erzwungene Exil in den USA, nach England, Südamerika oder Palästina zog.
Es waren beeindruckende Frauen um 1900, "nämlich beharrliche und willensstarke moderne ledige Frauen, die sich von der klassischen Frauenrolle in Ehe und Familie, aber auch von den Traditionen der jüdischen Religion abwandten und andere Sinngebungen ins Auge fassten."
Vor allem Herz und Wolff scheint eine sehr enge Freundschaft miteinander verbunden zu haben. Ob sie oder einige der anderen Frauen lesbisch waren, lässt Boxhammer offen, da es nicht nachgewiesen werden kann. Sie benutzt stattdessen die Kategorie "lesbian-like", die Aktivität betont und nicht Identität. "Es geht um frauenbewegte Frauen, die ihr Leben selbst in die Hand nahmen, in lesbenähnlichen Frauennetzwerken lebten und öffentlich für ihre Rechte eintraten, soweit die Gesetze es zuließen." Boxhammer geht dabei auf die zunehmende Anzahl lediger Frauen ein und weist völlig zu Recht darauf hin, wie wenig diese bisher erforscht wurden.
Was die Frauen anfangs miteinander verband, war zum einen der Kampf um das Frauenwahlrecht, für das sie sich engagierten, und zum anderen ihre Arbeit als Dentistinnen, also Zahnbehandlerinnen ohne Abitur und ohne Studium. Ein Studium war zu dieser Zeit nur im Ausland und somit nur für wenige Frauen möglich. In diesem Beruf hatten Frauen keinen Vorgesetzten, konnten also – wie der Titel des Buches nahelegt – "Herrin ihrer selbst" sein.
Aber die Frauen beschäftigten sich auch mit anderen Reformbewegungen, die zu Anfang des letzten Jahrhunderts aktiv waren. So waren sie Verfechterinnen einer gesunden und natürlichen Ernährung und Lebensführung und setzten sich für die Kleidungsreform ein, die "sowohl den männlichen wie auch den weiblichen Körper aus einengender und damit gesundheitsschädlicher Kleidung" befreien sollte. Die Frage nach weiblicher Selbstbestimmung und individueller Entfaltung war für sie mit der Kleiderfrage verknüpft.
Nach dem Tod von Helene Wolff gab Margarete Herz das gemeinsame Haus, das sie in Mehlem in der Nähe von Bonn zusammen mit ihr sowie mit ihrer Mutter Sophie und ihrer Schwester Lina bewohnt hatte, auf. Die drei Frauen zogen in den Harz, wo Margarete Herz eine "Heil-Kuranstalt" plante. Nach Scheitern dieses Plans und dem Tod der Mutter zogen die beiden Schwestern nach Blankenburg, wo Margarete Herz zum einen ein Reformhaus leitete und zum anderen zusammen mit ihrer Schwester in ihrem Haus vegetarische Mahlzeiten anbot. Dort fand sie auch eine neue Gefährtin: Elisabeth M. – warum deren Nachname, anders als bei allen anderen, nicht genannt wird, bleibt unklar.
Ausführlich geht Boxhammer auf das Erstarken der NSDAP ein, sowie auf den zunehmenden Antisemitismus und auch auf die Übereinstimmungen der NS-Ideologien mit denen der LebensreformerInnen. Nach dem Tod ihrer Schwester wurde das Leben für Herz immer schwieriger, denn auch wenn sie sich von der Religion abgewandt hatte, während der NS-Zeit galt sie nach dem Gesetz vom 7. April 1933 als Jüdin. Seit dem 1. April 1933 war bereits zum Boykott jüdischer Geschäfte und Warenhäuser aufgerufen wurde. Margarete Herz verkaufte ihr Reformhaus an ein "arisches" Geschwisterpaar, das dort bereits als Angestellte gearbeitet hatte.
Aber wie Boxhammer schreibt: "Sie ließ den Mut nicht sinken, obwohl sie im Laufe ihres Lebens sukzessive alles verlor, was ihr wichtig gewesen war: Helene, das erbaute Haus in Mehlem, Mutter und Schwester und schließlich ihr Heim in Blankenburg."
1938 gelang es ihr, zu ihrem Bruder Arthur in die USA zu emigrieren, d. h. sie gab nur seine Adresse als Ziel an, lebte allerdings nicht bei ihm sondern sorgte selber für sich. Trotz aller Bemühungen wurde sie dort nicht heimisch, sie hatte Sprachprobleme und konnte nicht wirklich Fuß fassen. Bevor sie nach dem Krieg ihren Plan, wieder nach Europa zurückzukehren, umsetzen konnte, starb sie 1947 an einer Hirnblutung.
Das Bild von Margarete Herz wird vor allem durch die überlieferten Briefe ihrer Schwägerin, der Antifaschistin und Pazifistin Alice Herz (1882-1965), gezeichnet. Hatte diese vor allem zu Anfang, während sie noch in der Frauenwahlrechtsbewegung aktiv waren, ein positives Bild von ihr, so nahm ihre Kritik im Laufe der Jahre immer mehr zu. Dies führt zu einem etwas einseitigen Bild, dem Boxhammer allerdings alternative Interpretationsmöglichkeiten gegenüber stellt.
Boxhammer verarbeitet in diesem reich mit Fotos und Dokumenten bebilderten Buch Unmengen an Material, nicht nur über die Frauen, mit denen sie sich ausführlich beschäftigt hat, sondern auch mit der Zeitgeschichte und den entsprechenden Bewegungen. Dabei geht sie manchmal zu sehr ins Detail, nennt viele Namen und stellt Querverbindungen her, eben weil ihr so viel Material vorliegt. Vage bleibt es, wenn sie trotz ihrer aufwändigen Recherche keine genauen Informationen auffinden konnte, so bleibt vieles "denkbar", "könnte sein" oder "vermutlich".
AVIVA-Tipp: Ingeborg Boxhammer ist trotz der teils dürftigen, andererseits umfangreichen Quellenlage ein sehr umfassendes Bild der Freundinnengruppe um Margarete Herz gelungen. Im Kontext ihrer ausführlichen Darstellung der Reformbewegungen in der die Frauen aktiv waren, zeichnet sie ein lebendiges Bild ihrer Biografien und Berufe, und macht die Herausforderungen, denen sie begegneten, sichtbar.
Zur Autorin: Ingeborg Boxhammer wurde 1962 in Ostwestfalen geboren und arbeitet als freischaffende Germanistin, Historikerin, Filmkritikerin, Journalistin und Software-Trainerin. 1991 erlangte sie den Magister in Älterer und Neuerer Germanistik sowie Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte in Bonn. Von 1991 bis 1997 arbeitete sie als Filmarchivarin und Vorführerin in einem Kino. Neben dem Schreiben von Filmrezensionen hält sie seit 1992 auch Filmvorträge. Im Frühjahr 2007 veröffentlichte sie ihr erstes Buch "Das Begehren im Blick - Streifzüge durch 100 Jahre Lesbenfilmgeschichte". 2015 erschien "Marta Halusa und Margot Liu. Die lebenslange Liebe zweier Tänzerinnen". Seit 2005 ist sie Redakteurin des mehrsprachigen Online-Portals lesbengeschichte.org.
Ingeborg Boxhammer
»Herrin ihrer selbst«: Zahnkunst, Wahlrecht und Vegetarismus.
Margarete Herz und ihr Freundinnen-Netzwerk
Hentrich & Hentrich Verlag, 2019
Klappenbroschur. 354 Seiten mit 60 Abbildungen
ISBN 978-3-95565-339-2
Euro 24,90
Zum Buch: www.hentrichhentrich.de
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