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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 20.09.2020


Judith Katz – Der Traum von Freiheit
Silvy Pommerenke

Sofia Teitelbaum ist ein jüdisches 16-jähriges Mädchen, als sie ihre Eltern im Mai 1913 dem scheinbar ehrenwerten 30-jährigen Tutsik Goldenberg zur Ehe versprechen. Die Hochzeit kann aber nicht in Warschau im Rahmen der Familie stattfinden, weil Goldenberg angeblich aus geschäftlichen Gründen nach Buenos Aires muss. Damit beginnt der Alptraum für Sofia. Herausgerissen aus ihrem behüteten Elternhaus findet sie sich wieder in einem Leben von Alkohol, Drogen, Prostitution und Gewalt.




Auf der Schiffsüberfahrt nach Argentinien deutet sich bereits ihr zukünftiger – ungewollter - Lebenswandel an, denn sie wird an Hochprozentiges und Nikotin herangeführt und wird außerdem in die lesbische Liebe eingewiesen. Später erhält sie weiteren Unterricht in homo- und heterosexuellen sowie Sadomaso-Sex-Praktiken von der Schwester Goldenbergs, Madame Perle, ihres Zeichens Bordellbesitzerin.

Sofia wird Stück für Stück auf das Leben einer Prostituierten vorbereitet und zur Zwangs-Geliebten Perles. Sofia, bislang sexuell unerfahren und in diese Arbeit hineingezwungen, hinterfragt anfangs nicht wirklich das ganze Procedere oder äußert kaum moralische Bedenken. Im Gegenteil, sie erweist sich als gelehrige Schülerin und nur gelegentlich ist sie etwas angewidert, zumeist aber einfach nur neugierig. Das Eingesperrt-Sein im schrecklichen Haus (so nennt Sofia das Bordell) und die sexuellen Zwangsleistungen stehen diametral zu ihrem Genuss und dem Vergnügen, die Sofia vordergründig empfindet. Erst, als Sofia zum wirklichen Einsatz im Schandhojs kommt, den männlichen Freiern ausgesetzt ist, wird ihr das ganze Grauen bewusst und auch die Leser*in erlebt nun ihre Erschütterung und Hilflosigkeit.

Judith Katz benutzt die Figur Hankus als Adressat*in, wodurch "Der Traum von Freiheit" etwas von einem Brief- oder Tagebuchroman erhält und eine gewisse Distanz in das Handlungsgeschehen eingebaut wird. Hankus alias Hannah Lubarsky, deren Familie bei einem Pogrom durch russische Kosaken bestialisch umgebracht wird, lebt in der Identität eines Mannes bei einem schwulen Paar in Krakau. Hankus übt sich in Zauberkunststücken, Entfesselungskünsten und Akrobatik und wird bald zum Star der Kleinkunstbühnen Krakaus. Bis zwei Offiziere versuchen, Hankus für die Armee zu rekrutieren. Damit der Geschlechtertausch nicht auffällt, bleibt Hankus nur die Flucht nach Argentinien, wo eine große jüdische Enklave existiert. In Buenos Aires etabliert sich Hankus schnell als jonglierende Kellner*in und wird zur städtischen Sensation. Auch Tutsik Goldenberg wird auf ihn/sie aufmerksam und bietet Hankus die Möglichkeit, in einem Theater aufzutreten, mit sich als Manager. So kreuzen sich erstmals auch die Wege von Sofia und Hankus. Eine folgenschwere Begegnung...

"Der Traum von Freiheit" ist nicht nur ein Roman über eine Zwangsprostituierte im frühen 20. Jahrhundert und über Geschlechtertausch, sondern auch eine Einführung in jüdische Tradition und Riten. Gebräuche, Feiertage und Lebensweisen werden in das Romangeschehen eingebunden und dank eines Glossars werden zahlreiche jiddische und hebräische Begriffe erläutert.

Judith Katz ist eine begnadete Erzählerin, die ihre Geschichte dialogreich, spannend und lebendig entwickelt. Die dreihundertfünfzig Seiten schmökern sich leicht weg und offenbaren ein buntes Panorama des Lebens um 1913 im fernen Argentinien. Alle Figuren sind messerscharf gezeichnet und pointiert dargestellt, lediglich das Grauen, dem die Prostituierten ausgesetzt sind, hätte vielleicht schärfer herausgearbeitet werden können. Dafür sorgt Katz aber auch dafür, dass die unehrenhaften Charaktere des Romans trotzdem etwas Menschliches erhalten. Denn letztendlich hat jede*r der Protagonist*innen eine unterschiedliche Idee von Freiheit: Sofia und ihre Leidensgenossinnen wollen dem Bordell entfliehen, Tutsik Goldenberg sich von der ökonomischen Abhängigkeit seiner Schwester befreien, und die wiederum sucht im Glauben ihre Erlösung beziehungsweise ihre Freiheit.

AVIVA-Tipp: Judith Katz hat mit "Der Traum von Freiheit" einen schillernden Roman zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt. Dabei werden Themen wie Zwangsprostitution, Homosexualität, Gewalt und jüdisches Leben verarbeitet. Dank der geschliffenen Dialoge, der detailgenauen Beschreibung ihrer Protagonist*innen und dem historischen Kontext ist "Der Traum von Freiheit" ein wahres Lesevergnügen mit sozialkritischem Tiefgang.

Zur Autorin: Judith Katz hat in den frühen 1970er als Schauspielerin und als Dramatikerin begonnen. Sie gründete das Chrysalis Theatre Eclectic und ging Mitte der 1980er Jahre nach Minneapolis, wo sie bis zu der erstmaligen Veröffentlichung im Jahr 1992 an dem Buch "Running Fiercely Toward a High Thin Sound" arbeitete. Dafür gewann sie den Lambda Literary Award für die beste lesbische Fiktion. Vier Jahre später veröffentlichte sie ihren zweiten Roman "The Escape Artist", der auf Deutsch unter dem Titel "Der Traum von Freiheit" 2019 im querverlag erschien.
Judith Katz erhielt Stipendien von der National Endowment for the Arts, dem Minnesota State Arts Board und der Bush- und McKnight-Foundation. 2018 wurde sie in die Hall of Fame der Saints and Sinners aufgenommen, einer jährlichen LGBTQ Literatur-Konferenz. Ihre Theaterstücke wurden u.a. vom Washington Area Feminist Theatre, dem Omaha Magic Theatre und dem Chrysalis Theatre Eclectic produziert. Außerdem finden sich Texte von ihr in den Anthologien The Original Coming Out Stories, The Penguin Book of Women´s Humor und Tasting Life Twice: Literary Lesbian Fiction, sowie in den Online-Zeitschriften Tablet Magazine, Lambda Literary Review und The Seattle Lesbian.
Nach einigen Jahrzehnten Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten (u.a. Hamline University, Minneapolis College of Art and Design, University of Minnesota u.a.) arbeitet sie nun als Beraterin für Englisch und Gender, Women & Sexuality Studies an der University of Minnesota.
Judith Katz im Netz: www.judithkatznovelist.com

Judith Katz – Der Traum von Freiheit
Originaltitel: The escape artist
Aus dem Englischen von Rebecca Lindholm
Querverlag, erschienen 09/2019
Broschiert, 352 Seiten
ISBN 978-3-89656-278-4
Euro 18,00
Mehr zum Buch unter: www.querverlag.de

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Irene Stratenwerth, Esther Sabelus, Simone Blaschka-Eick, Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven und Hermann Simon, Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum (Hrsg.): Der Gelbe Schein: Mädchenhandel 1860 bis 1930, Deutsches Auswandererhaus, Bremerhaven 2012, ISBN 978-3-00-038801-9.
Myrtha Schalom: La Polaca. Inmigración, rufianes y esclavas a comienzos del siglo XX. Grupo Editorial Norma, Buenos Aires, 2003, ISBN 987-545-113-4, Galerna, Buenos Aires, 2013, ISBN 978-950-556-588-7.
Nora Glickman: The Jewish White Slave Trade and the Untold Story of Raquel Liberman. Garland Publishing, London/ New York 2000, ISBN 0-8153-3300-5.

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"Der Gelbe Schein. Mädchenhandel 1860 bis 1930" war eine gemeinsame Ausstellung (19. August 2012- 30. Dezember 2012) der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum und des Deutschen Auswanderhauses Bremerhaven. Sie griff ein bislang weitgehend unbekanntes Kapitel der europäischen Massenauswanderung auf. "Der Gelbe Schein", ein umgangssprachlicher Ausdruck für den Prostituierten-Ausweis im vorrevolutionären Russland, ist ein Symbol für die Zwangslage vieler junger Frauen in jener Zeit: Ein Umzug vom Shtetl in Städte wie Moskau oder St. Petersburg war Jüdinnen in Russland offiziell nur erlaubt, wenn sie sich als Prostituierte registrieren ließen. Auch in Österreich-Ungarn und im Deutschen Reich hatten junge Mädchen aus den ärmeren Bevölkerungsschichten oft keine andere Überlebenschance, als in die Prostitution zu gehen. Eine Auswanderung in die Neue Welt wurde für sie fast immer zur riskanten Gratwanderung: Sie suchten Arbeit in Privathaushalten, Gaststätten oder Tanzpalästen und landeten im Bordell. Mit Gewalt verschleppt, mit märchenhaften Versprechen verführt oder aus freien Stücken? In jahrelangen Recherchen hat das Ausstellungsteam um die Kuratorin Irene Stratenwerth nach Spuren gesucht, die vom Leben dieser Mädchen und jungen Frauen erzählen – und von den Männern und Frauen, die mit ihnen Geld verdienten. Oft ist nicht mehr als ein einzelnes Fragment geblieben: Ein Foto, ein Polizei- oder Gerichtsprotokoll, eine Zeitungsnotiz, ein Brief.



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Beitrag vom 20.09.2020

Silvy Pommerenke