Jella Lepman – Die Kinderbuchbrücke. Herausgegeben von der Internationalen Jugendbibliothek unter Mitarbeit von Anna Patrucco Becchi - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 20.11.2020


Jella Lepman – Die Kinderbuchbrücke. Herausgegeben von der Internationalen Jugendbibliothek unter Mitarbeit von Anna Patrucco Becchi
Bärbel Gerdes

Die Kinder über eine Bücherbrücke zusammenführen und "der geistigen Verarmung der deutschen Nachkriegskinder entgegenzuwirken" – dies nahm sich die jüdische Journalistin Jella Lepman (1891–1970) vor und gründete 1949 in München die Internationale Jugendbibliothek. Ihr Bericht über deren Entstehung und über ihre Rückkehr aus der erzwungenen Emigration in das postfaschistische Deutschland ist ein Glücksfall: äußerst spannend, nach-denkenswert und gewürzt mit viel Humor.




Ihre Schwester Klara musste ihre Tochter, um sie zu retten, mit einem Kindertransport nach England schicken. Erst ein Jahr später gelang es den Eltern, sie dort abzuholen und gemeinsam nach New York zu emigrieren.
Ihre jüngste Schwester Berta versuchte mehrmals vergeblich, mit ihrer Mutter Europa zu verlassen. Schließlich hatte sie Geld und Papiere für die Überfahrt in die USA zusammen und machte sich mit der Mutter auf den beschwerlichen Weg nach Lissabon. Doch vor der Abfahrt starb die Mutter geschwächt von den Strapazen der Reise. Berta verließ Europa im April 1941.

Jella Lepman schließlich, seit 1922 mit einunddreißig Jahren verwitwet, zwei kleine Kinder, seit 1935 Schreib- und Veröffentlichungsverbot, emigrierte 1936 zunächst nach Italien, wo sie sich durch Mussolini zunehmend bedroht fühlte und flüchtete 1937 mit den Kindern nach England.

Und gerade sie wurde 1945 von der amerikanischen Militärregierung gebeten, ins Hauptquartier nach Bad Homburg zu fliegen, nach Deutschland zurückzukehren, um dort als Adviser zu arbeiten, Berater für die kulturellen und erzieherischen Belange der Frauen und Kinder in der amerikanischen Besatzungszone.
Zwei Wochen nahm sie sich Bedenkzeit. FreundInnen rieten ihr ab. Jella Lepman hatte gut Fuß gefasst in England: anfangs hatte sie sich über Wasser gehalten, indem sie den Nachlass von Arthur Schnitzler ordnete, ein Auftrag seiner geschiedenen Frau Olga.

1939 endlich bekam sie eine Festanstellung als Adviser für Jugendfragen im Foreign Office und als Kommentatorin bei der BBC. 1941 übernahm sie schließlich eine leitende Position bei der American Broadcasting Station in Europe (ABSiE).

Leicht fiel ihr die Entscheidung nicht: Wäre es um die Erwachsenen gegangen, hätte ich keinen Augenblick gezögert, nein zu sagen, schreibt sie und fragt sich: Waren die Kinder Deutschlands nicht genauso schuldlos wie die Kinder überall auf der Welt, wehrlose Opfer furchtbarer Ereignisse?. Immer wieder betonte sie auch später, dass sie nur akzeptierte, weil sie wusste, dass Kinder keine Schuld an dem haben, was die Erwachsenen verbrechen.

Nach der Ankunft in Deutschland bricht sie zu einer mehrwöchigen Informationsreise auf. Sie ist erschüttert, mit welcher Selbstverständlichkeit die Deutschen zur Tagesordnung übergehen. Der Refrain war stets derselbe. "Der Spuk ist vorbei, nun wird alles wie früher sein!" So einfach war das, gestern war gestern, heute war heute, es verschlug einem den Atem.. Es gab Millionen von Mitläufern, die ihre Verantwortung nicht sahen.
Sie trifft eine Kinderfrau, eine fanatische Nazifrau, die behauptete, die Juden hätten es gut gehabt, seien sie doch rechtzeitig vor dem Bombenhagel gerettet worden. Weder Theresienstadt noch Auschwitz hat man je bombardiert, das sollte man nie vergessen….

Lepman sieht die vielen elternlosen Kinder in den Straßen, die sich zu Banden zusammengetan haben, betteln, Brennholz sammeln oder auf dem Schwarzmarkt arbeiten. Sie sieht das Elend, doch kann sie die Schattengestalten nicht vergessen, jene jüdischen Kinder, die hinter ihnen standen, die in Lagern geschunden, gequält und ermordet wurden. Selbst diese Trümmerkinder waren ihnen gegenüber beneidenswert.

Jella Lepman plant eine Ausstellung der besten Kinder- und Jugendbücher verschiedener Nationen. Die Kinderbücher sollen Friedensboten sein. An 20 Länder versendet sie einen Brief mit der Bitte um Zusendung von Bilderbüchern und guter Belletristik. In Deutschland gibt es kaum noch gute Kinder- und Jugendliteratur. Lepman hofft, dass sich deutsche VerlegerInnen die Übersetzungsrechte sichern, um die Kinder in Deutschland mit den Kinderbüchern anderer Nationen bekannt zu machen.
Neunzehn Länder antworten, eines weigert sich zunächst. Zweimal sei es von den Deutschen überfallen worden, begründet Belgien die Absage, die jedoch nach einem weiteren Brief Lepmans revidiert wird.
Zahlreiche UnterstützerInnen findet Lepman auch in Deutschland. Elly und Theodor Heuss, Gabriele Strecker, Golo Mann sind unter ihnen. 1946 trifft sie Eleanore Roosevelt, eine der unerbittlichsten Gegnerinnen des Naziregimes, die auf einer Pressekonferenz mit der Frage konfrontiert wird, ob sie nicht glaube, dass die deutschen Kinder mehr gelitten hätten als die Kinder im übrigen Europa.

Im Juli 1946 wird die Ausstellung in München eröffnet – und sie wird ein riesiger Erfolg. Der Schriftsteller Erich Kästner, der Lepman stets unterstützte, schrieb einen begeisterten Artikel in der "Neuen Zeitung". Ihm gab sie die Idee zu seinem Buch Konferenz der Tiere.
Die Bücher waren Leihgaben anderer Nationen. Dennoch blieb es bei Lepmans Konzept, dass die Bücher zum Anfassen und Lesen waren. Schlangen von Menschen warteten jeden Morgen vor dem Haus der Kunst, in dem die Ausstellung stattfand.
Von Anfang an war sie als Wanderausstellung konzipiert und reiste dementsprechend nach Stuttgart, Hamburg, Frankfurt, Berlin … Kein leichtes Unterfangen in einer Zeit, in der es kaum Wohnraum gab und in jeder Stadt ein Ausstellungsort gefunden werden musste.
Auf ihren Reisen wurde Jella Lepman immer wieder mit dem Denken der Deutschen konfrontiert. Bei einem Gespräch mit Studierenden war sie entsetzt über eine Selbstbemitleidung, die einem fast den Atem nahm.

1947 unterbreitet Lepman den Vorschlag, aus der Ausstellung eine Internationale Jugendbibliothek zu machen. Das Prinzip der Bücherspenden sollte beibehalten werden.
Ihren Weg hin zu dieser Bibliothek erzählt Jella Lepman spannend und mitreißend. Die Fortschrittlichkeit ihrer Ideen – eine Bibliothek mit Zweigstellen, mit einer Forschungsstelle für Kinder- und Jugendliteratur, mit einem Freihandbereich für Kinder (deutsche BibliothekarInnen waren entsetzt und meinten, dies sei keine Bibliothek, sondern ein Zirkus) – sind verblüffend. Zusätzlich sollte die Bibliothek ein Treffpunkt sein: es entstanden Buchdiskussionsgruppen (als Gast: Erika Mann), Sprachkurse, Theatergruppen (mit Erich Kästner). Jährlich präsentierte die Internationale Jugendbibliothek eine Weihnachtsausstellung, die bei VerlegerInnen aus dem Aus- und Inland sehr beliebt war, da sie dort die Neuerscheinungen vieler Nationen kennenlernen und ins Lizenzgeschäft kommen konnten.

Jella Lepman initiierte 1956 den Deutschen Jugendbuchpreis (heute Deutscher Jugendliteraturpreis), sammelte mehr als 4000 Selbstporträts von Kindern und Jugendlichen, und schrieb zudem noch selbst Kinderbücher und das Buch Women in Nazi Germany.
Dabei bestand sie darauf, Mrs Lepman zu bleiben, und sprach mit ihren eigenen Kindern ausschließlich Englisch.

Es verwundert, schreibt Anna Becchi in ihrem sehr lesenswerten Nachwort, dass die Frauenforschung sich bislang so wenig für diese emanzipierte Publizistin und Kulturvermittlerin interessiert hat.
Dank der von Anna Becchi ungewöhnlich gut editierten, mit vielen Fotos angereicherten und mit einem hochinteressanten Anmerkungsteil versehenen Neuausgabe der Kinderbuchbrücke ist dies nun möglich.

AVIVA-Tipp: Jella Lepmans 1964 geschriebener, spannender Bericht über den Aufbau der Internationalen Jugendbibliothek in München macht uns bekannt mit einer faszinierenden Persönlichkeit und ihrem Lebenswerk. Dabei kontrastieren ihre scharfen Beobachtungen in Nachkriegsdeutschland mit ihrem demokratischen und liberalen Geist.



Zur Autorin: Jella Lepman wurde 1891 in Stuttgart als Jella Lehman geboren und wuchs in einer liberalen, weitgehend assimilierten jüdischen Familie auf. Bereits mit 17 Jahren gründete sie eine Internationale Lesestube für Kinder ausländischer ArbeitnehmerInnen einer Zigarettenfabrik und erstellte erste journalistische Arbeiten. 1913 heiratete sie und bekam zwei Kinder. Nach dem frühen Tod ihres Mannes 1922 fand sie eine Anstellung als erste weibliche Redakteurin beim "Stuttgarter Neuen Tagblatt". Unter einem Pseudonym schrieb sie auch für andere Publikationen. Sie schrieb zudem Kinderbücher und engagierte sich in der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP). 1928 kandidierte sie erfolglos neben Theodor Heuss für den Reichstag. 1933 Entlassung und Arbeit als freie Mitarbeiterin. Ab 1935 Schreib- und Publikationsverbot. 1936 Emigration nach Italien, 1937 nach England. 1943 erschien im Exil in englischer Sprache ihr Buch "Women in Nazi Germany" unter dem Pseudonym Katherine Thomas.
Arbeit bei den Rundfunkanstalten BBC und ASPiE. Ab 1945 in Deutschland. Aufbau der Internationalen Jugendbibliothek in München. Ihren Lebensabend verbrachte sie ab 1957 in Zürich, wo sie am 4. Oktober 1970 starb.

Zur Herausgeberin: Anna Patrucco Becchi hat in Genua und Saarbrücken Philosophie, Italianistik und Germanistik studiert. Heute lebt sie in Italien und übersetzt Kinder- und Jugendbücher aus dem Deutschen, Niederländischen und Englischen ins Italienische. Als Literaturagentin vertritt sie u. a. die Verlage Beltz & Gelberg, Carlsen und Hanser Kinderbuch in Italien. Sie ist regelmäßig als Referentin für das Goethe-Institut unterwegs und begleitet Autoren auf Lesereise. Für Fachzeitschriften rezensiert sie Kinder- und Jugendbücher, schreibt Artikel über Jugendliteratur und forscht seit Jahren über Jella Lepman, die Gründerin der Internationalen Jugendbibliothek in München und des International Board on Books for Young People (IBBY).

Jella Lepman
Die Kinderbuchbrücke

Herausgegeben von der Internationalen Jugendbibliothek unter Mitarbeit von Anna Becchi. (Vorwort von Christiane Raabe, Direktorin der Internationalen Jugendbibliothek)
Kunstmann Verlag, erschienen im September 2020
303 Seiten. Gebunden, Zahlreiche Abbildungen
ISBN 978-3-95614-392-2
Euro 25,00
Zum Buch: www.kunstmann.de

Mehr Informationen:

Stiftung Internationale Jugendbibliothek www.ijb.de

IBBY. INTERNATIONAL BOARD ON BOOKS FOR YOUNG PEOPLE www.ibby.org

"Jella Lepman: Die Gründerin der Internationalen Jugendbibliothek". Von Anna Becchi auf LIBREAS. (Library Ideas wird herausgegeben am Institut für Bibliotheks- und Informationswissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin) libreas.eu

Jewish Book Council www.jewishbookcouncil.org

Ein Beitrag im "The Association of Jewish Refugees is the national charity supporting Holocaust refugees and survivors living in Great Britain" von 1970 ajr.org.uk



Copyright Foto von Jella Lepman: Privat


Literatur

Beitrag vom 20.11.2020

Bärbel Gerdes