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Beitrag vom 11.12.2020
Margaret Goldsmith - Patience geht vorüber
Christina Mohr
Die von Margaret Goldsmith im Jahr 1931 in die Welt geschickte Patience ist eine moderne Heldin: an einem für Mädchen vorgesehenen "normalen" Lebenslauf ist sie nicht interessiert, sie will ihr Leben selbst gestalten. Erschienen im mit dem Berliner Verlagspreis 2020 ausgezeichneten AvivA-Verlag.
Margaret Goldsmith verarbeitet in ihrem Roman "Patience geht vorüber" autobiographische Elemente: Wie die Autorin ist die Protagonistin Tochter einer Engländerin aus gutem Hause und eines deutschen adligen Vaters, und muss in eigener Person die Nachwirkungen des Ersten und Vorwehen des Zweiten Weltkriegs verarbeiten.
Wie Goldsmith ist auch Patience Wandlerin zwischen verschiedenen Welten, agiert als Vermittlerin unterschiedlicher (politischer und emotionaler) Positionen, aber auch Überwinderin althergebrachter Traditionen. Schon von frühester Kindheit an muss sie sich erklären, ist Außenseiterin, die zwar zurechtkommt, aber nirgends komplett dazugehört. Ihren Mitschülerinnen erklärt sie geduldig, wie sie ihren fremd wirkenden Vornamen aussprechen sollen ("Peeschens"), sich selbst bezeichnet sie als durchaus schön, aber "mit verrutschten Zügen", wie eine verschmierte Kohlezeichnung – eine so ungewöhnliche wie starke Beschreibung.
Auch in Liebesdingen geht Patience unkonventionelle Wege: Die lesbische Beziehung zu ihrer Freundin Gretel wird nicht vertuscht oder kompliziert umschrieben, ebenso wenig wie die nur aus Mitleid vollzogene Hochzeit mit dem jungen Soldat Joachim – seinen Tod als Kampfpilot sieht sie abgeklärt voraus.
Stil der Autorin und Haltung der Protagonistin sind deutlich von der Neuen Sachlichkeit geprägt, einer Kunstrichtung, die während der Weimarer Republik entstand und sich vor allem in der Bildenden Kunst niederschlug (Anita Rée, Dodo, Jeanne Mammen, Otto Dix, Alexander Kanoldt, George Grosz), aber auch Literatur und Theater durchdrang. Zeigen, was ist – dieses neusachliche Diktum bestimmt das Handeln von Goldsmiths Patience, die sich nach dem Tod ihres Ehemanns und dem Ende der Beziehung mit Gretel nur noch auf rein erotische Abenteuer einlässt. Nach ihrer jahrelangen Tätigkeit als Journalistin und Übersetzerin beginnt sie ein Medizinstudium und will keine Bindungen mehr eingehen.
Von Goldsmith klar und schnörkellos erzählt, entfaltet sich durch Patience ein modernes Frauenbild, das seine eigenen Schwierigkeiten mit sich bringt. Sehr konstruiert wirkt die Entwicklung am Ende, als sich Patience – Sachlichkeit hin, Freiheit her – sehnlichst ein Kind wünscht und auch bekommt. Die Auflösung wird hier natürlich nicht verraten, nur so viel, dass der Schluss leider den Gesamteindruck des Romans schwächt. Dennoch ist "Patience geht vorüber" ein interessantes Zeitdokument: 1931 während der Weltwirtschaftskrise erschienen, wurde Goldsmiths Entwurf einer selbstbestimmten, von Männern unabhängigen Frau nicht ausreichend gewürdigt.
Dass das Werk heute neu entdeckt werden kann, ist das Verdienst des Berliner AvivA-Verlags (Trägerin des Berliner Verlagspreises 2020). In seinem ausführlichen Nachwort schildert Eckhard Gruber das schier unglaubliche Leben von Margaret Goldsmith´, das auch aus heutiger Sicht mindestens so spektakulär erscheint wie das ihrer Heldin Patience.
Zur Autorin: Margaret Goldsmith wurde 1895 im US-amerikanischen Milwaukee geboren und wuchs in Berlin auf. Ab 1928 verfasste Margaret Goldsmith sechs Romane und mehr als zwanzig Biografien und Sachbücher, u.a. zu Hindenburg, Zeppelin, Christina von Schweden und Sappho, und übersetzte ebenso viele Bücher aus dem Deutschen ins Englische. Nach einem Studium in Illinois kehrte sie 1921 wieder nach Berlin zurück und wurde stellvertretende US-Handelskommissarin. Als Korrespondentin war sie mit ihren Berichten aus Deutschland in englischen und amerikanischen Zeitungen präsent.
Bekannt ist Margaret Goldsmith (oder Goldsmith-Voigt, nach dem Journalisten Frederick Voigt, mit dem sie von 1926 bis 1935 verheiratet war) heute auch durch ihre Liebesaffäre mit Vita Sackville-West im Jahr 1928.
1931 ging Goldsmith nach London und wurde dort eine wichtige Vermittlerin deutscher Literatur. Sie übertrug u.a. Werke von Anna Seghers, Oskar Maria Graf, Vicki Baum und Erich Kästner ins Englische und setzte sich für deutsche Emigrant*innen, darunter Siegfried Kracauer, ein. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete sie beim Britischen Rundfunk. 1970 starb die Schriftstellerin, Übersetzerin und Journalistin im Alter von 75 Jahren in London.
(Quelle: Verlagsinformation)
AVIVA-Tipp: Anti-romantisch, aber voll starker Gefühle und Überzeugungen ist Margaret Goldsmiths Romanfigur, die ein deutliches Abbild ihrer Erfinderin ist. "Patience geht vorüber" ist eine literarische Neuentdeckung, die zeigt, wie stark und unabhängig Frauen zwischen den Weltkriegen sein konnten.
Margaret Goldsmith
Patience geht vorüber
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Eckhard Gruber
Umschlagillustration: Martel Schwichtenberg
AvivA-Verlag, erschienen 2020
222 Seiten, gebunden
ISBN: 978-3-932338-94-6
AVIVA
Mehr zum Buch und zur Bestellung unter: www.aviva-verlag.de
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