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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 04.01.2021


Hallie Rubenhold – The Five. Das Leben der Frauen die von Jack the Ripper ermordet wurden
Silvy Pommerenke

Die britische Historikerin Hallie Rubenhold begibt sich auf die Suche nach den ermordeten fünf Frauen im Jahr 1888 durch Jack the Ripper. Durch akribische Recherche entstehen individuelle Biografien, und die Opfer werden so aus der Anonymität herausgelöst. #saytheirnames: Polly Nichols, Annie Chapman, Elizabeth Gustafsdotter, Kate Eddowes und Mary Jane




Hallie Rubenhold ist nicht nur Sozial-Historikerin, sondern auch eine fantastische Erzählerin, die es versteht, ihr Thema in lebendigen und detailgetreuen Bildern zu schildern. Dadurch ergibt sich ein eindrückliches Panorama vom England des 19. Jahrhunderts und vor allem seiner Hauptstadt London, das besonders die zeitgenössischen sozialen und politischen Ereignisse widerspiegelt und die katastrophalen Lebensumstände der Arbeiter*innenfamilien aufzeigt.

Die Kanonischen Fünf

Hallie Rubenholds Fokus liegt dabei, anders als in den bisher veröffentlichten Publikationen, nicht auf den bis heute bekannten Mörder Jack the Ripper und den Tötungsakten, sondern auf den so genannten Kanonischen Fünf, den fünf weiblichen Mordopfern, die mutmaßlich vom Ripper ermordet und verstümmelt wurden. Außerdem räumt sie mit dem vielfach reproduzierten Narrativ auf, dass es sich bei den getöteten Frauen ausnahmslos um Prostituierte gehandelt habe. Dabei stützt sie sich vor allem auf historische Gerichtsakten und Zeitungsberichte, bisweilen auch auf Polizeiakten.

Deren Lebensumstände waren vor allem bedrückend, denn sie entstammten der ärmsten Arbeiter*innenbevölkerung, deren Löhne kaum zum Überleben reichten. Und trotzdem wäre es zu einfach, die Biografien als identisch zu beschreiben. Mordopfer Nummer eins, Polly Nichols, hätte eine halbwegs stabile Zukunft haben können, wenn nicht ihr Mann mit einer anderen Frau durchgebrannt wäre. Dadurch wendete sich ihr Schicksal dramatisch, denn Ende des 19. Jahrhunderts war es für eine Frau ohne Ehemann schier unmöglich, sich ökonomisch unabhängig durchschlagen zu können. In ihrem Fall führte das zur Obdachlosigkeit und zum Alkoholismus, wodurch sie zu einer leichten Beute für den Ripper wurde. Im zweiten Fall, bei Annie Chapman, waren die anfänglichen Weichen auch positiver gestellt. Als Tochter eines Soldaten und späteren Kammerdieners genoss sie diverse Privilegien. Als ältestes Kind musste sie zwar schon früh das Familieneinkommen unterstützen, aber sie arbeitete als Hausangestellte bei einem wohlsituierten Architekten. Mit knapp 30 Jahren heiratete sie den Privat-Kutscher eines Aristokraten, wodurch sie wiederum gewisse Privilegien genoss und in die Mittelschicht aufstieg. Auch dieses Leben hätte wundervoll verlaufen können, wenn nicht auch Annie zur Alkoholikerin geworden wäre. Wie Polly fiel sie von der gesellschaftlichen Leiter und wurde obdachlos.

Ähnlich schlecht verliefen die Lebensgeschichten der anderen drei Frauen, Elizabeth Gustafsdotter, Kate Eddowes und Mary Jane. Sie wurden ebenfalls Opfer ihrer Umstände, die meistens mit der Trennung vom Ehemann begannen, dadurch unweigerlich in eine soziale und ökonomische Sackgasse führten (für einige auch zur Prostitution), was in der Regel auch Obdachlosigkeit bedeutete. Viele von ihnen bekämpften dies mit Alkohol ein Teufelskreislauf, aus dem es kein einfaches Entrinnen gab, und der offenbar ein weit verbreitetes Frauen-Schicksal der damaligen Zeit war.

Die fünf ermordeten Frauen erhalten durch Hallie Rubenhold eine Identität und sind nicht länger nur Opfer. Was längst überfällig war, zumal dem Täter ein eigenes Museum gewidmet ist. Rubenhold hingegen widmet die letzten Seiten ihres Sachbuches den Dingen, die die ermordeten Frauen zum Zeitpunkt bei und an sich trugen. Eine erschütternd intime Liste.

AVIVA-Tipp: "The Five" ist eine ungemein spannende Lektüre , die sich weniger mit den Morden an den fünf Frauen im Jahr 1888 durch Jack the Ripper befasst, sondern mit dem Leben, das sie davor führten. Neben den akribisch zusammengetragenen Biografien der Mordopfer erfährt die Leserin zudem viel über das damalige Leben von Frauen im Allgemeinen: wie unterprivilegiert sie waren, dass sie wenig bis gar keine Schulbildung erhielten, dass sie bereits im Teenager-Alter Knochenarbeit leisten mussten, unzählige Schwangerschaften hatten (an denen sie häufig auch starben), weil in diesen Kreisen nichts über Verhütung bekannt war, und dass für individuelle und intellektuelle Entfaltung kaum Raum war. Außerdem räumt Rubenhold mit dem Vorurteil auf, dass es sich bei Jack the Ripper um einen reinen Prostituiertenmörder gehandelt habe. In den Fällen, wo es tatsächlich zutraf, schildert sie die (ökonomisch und gesellschaftlich bedingten) Gründe, warum sie sich als Sexarbeiterinnen verdingen mussten. Neben der spannenden Lektüre bewirkt das Buch vor allem eins: es berührt zutiefst!

Zur Autorin: Hallie Rubenhold wurde 1971 in Los Angeles als Tochter eines britischen Vaters und einer US-amerikanischen Mutter geboren und studierte Geschichte an der University of Massachusetts Amherst und an der University of Leeds, wo sie promovierte und ihre Doktorarbeit zum Thema "Ehe und Kindererziehung im 18. Jahrhundert" verfasste. 2005 hatte sie mit "Covent Garden Ladies" ihr literarisches Debut, dem bislang fünf weitere Bücher folgten. Ihr Erstlingswerk setzt sich sozialgeschichtlich mit der Prostitution in der georgianischen Gesellschaft auseinander und diente gleichzeitig als Vorlage zu einem Dokumentarfilm der BBC. Auch ihr 2008 erschienenes Buch "Lady Worsley´s Whim" wurde als Film adaptiert. "The Five" – wofür sie 2019 mit dem Baillie Gifford-Preis für Sachbücher ausgezeichnet und als Bestseller der Sunday Times gelistet wurde – soll als TV-Serie verfilmt werden. Wenn sie keine Bücher schreibt, arbeitet sie als historische Beraterin für Fernsehen und Film und als Rundfunksprecherin. In der Vergangenheit war sie außerdem als Kuratorin für die National Portrait Gallery, als Universitätsdozentin und als Kunsthändlerin tätig. 2014 kuratierte sie eine Ausstellung über den Ruf von Frauen in der georgianischen Ära für den Royal Crescent Nr. 1 in Bath und war an mehreren Projekten im Foundling Museum in London beteiligt. Hallie Rubenhold lebt mit ihrem Mann in London.
Hallie Rubenhold im Netz:
www.hallierubenhold.com, auf Twitter und auf Instagram

Zur Übersetzerin: Susanne Höbel, geboren 1953, studierte von 1975 bis 1980 Englisch an der Universität Birmingham und arbeitete als Sprachlehrerin in Freiburg und in Berlin. Seit 1989 ist sie freiberufliche Übersetzerin englischer und amerikanischer Literatur. Zu den von ihr übersetzten Autor*innen gehören A.L. Kennedy, Graham Swift, Nadine Gordimer, Ayana Mathis, Edith Pearlman, John Updike, Nicholson Baker, Margaret Forster und William Faulkner. Außerdem hat sie den Roman "Peking Koma" (2009) des chinesischen Dissidenten und Literaturpreisträgers Ma Jian, dessen Gesamtwerk in China verboten ist, nach der englischen Übersetzung von Flora Drew ins Deutsche übertragen. Weiterhin ist sie seit 2008 Präsidentin des Freundeskreises zur internationalen Förderung literarischer und wissenschaftlicher Übersetzungen, und sie ist Mitglied der Jury der Ledig-Rowohlt-Stiftung. Susanne Höbel lebt in Südengland und in Deutschland.

Hallie Rubenhold – The Five – Das Leben der Frauen die von Jack the Ripper ermordet wurden
Nagel & Kimche Verlag, Erscheinungstermin 09/2020
Gebunden, 424 Seiten
Originaltitel: The Five – The untold lives of the women killed by Jack the Ripper
Übersetzerin: Susanne Höbel
ISBN 978-3312011865
Euro 24,00

Mehr zum Buch unter: www.nagel-kimche.ch


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Beitrag vom 04.01.2021

Silvy Pommerenke