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Beitrag vom 19.02.2021
Mirna Funk – Zwischen Du und Ich
Kathrin Schwarz
Nach "Winternähe" und ihrem Kinderbuch "Wo ist Papa?" erscheint der neue Roman der in Berlin und Tel Aviv lebenden Autorin, Journalistin, Moderatorin, Filmemacherin, Schriftstellerin und Vogue-Kolumnistin Mirna Funk. Darin verkörpern die Figuren Noam und Nike die jüdisch-deutsch und israelischen Traumata, die sich bis heute über mehrere Generationen übertragen.
Ihrem Roman vorangestellt hat Mirna Funk das Gedicht "Traum" von Hannah Arendt, das 2015 posthum veröffentlicht wurde.
"Ich selbst,
Auch ich tanze,
[…]
Ich hab nichts vergessen,
Ich kenne die Leere,
Ich kenne die Schwere[…]
Die Wahrheit der Dichtung besteht für Hannah Arendt darin, dass deren Lyrik über die Zeiten hinweg fähig ist, "Gedächtnis zu stiften" – wie sie 1958 in ihrem letzten großen Werk "Vita activa oder Vom tätigen Leben" formuliert. Zusammen mit dem Titel des Buches "Zwischen Du und Ich" wird ein Rahmen für die Handlung des Romans abgesteckt, denn der Titel kann als Anspielung auf den jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber verstanden werden. Er schrieb mit "Ich und Du" eines seiner wichtigsten religionsphilosophischen Werke. Darin entsteht ein Ich in Dialog mit einem "Du", auch einem "göttlichen Du" und seiner Umgebung.
Der Dialog bedeutet im Roman nicht zwangsläufig Heilung, nach der die Figuren Nike und Noam auf ihre jeweils eigene Art suchen. Im Judentum finden sie mögliche Ansätze, wenn sie Bruchstellen ausmachen, die einen Teil ihrer jüdischen Identität darstellen. Im Gegensatz zu "Winternähe", Mirna Funks erstem Roman, konzentriert sich "Zwischen Du und Ich" noch mehr auf die Suche nach dem, was jüdische Identität ausmacht. Die Hauptfiguren verlieben sich, doch das ist nicht der romantische Schlusspunkt in dieser Geschichte. Vielmehr geht es um den Umgang mit Verletzungen und wie sie in Dialog mit sich selbst treten können – oder nicht.
Der Roman Zwischen Du und Ich beginnt mit der Entdeckung des Stolpersteins für Nikes Urgroßmutter Dora, während ihr Ex-Freund Sascha an Nike vorbeifährt. Die kurze Begegnung macht ihr klar, dass sie jahrelang nur versuchte, zu funktionieren und alles unter Kontrolle zu halten. Als sie die Gelegenheit bekommt, in Israel zu arbeiten, greift sie zu.
Nike will in Tel Aviv neu anfangen, sogar Alija machen, also nach Israel einwandern. Auch, um sich selbst zu entkommen, denn über die letzten Jahre hat sie die traumatische gewalttätige Beziehung mit Sascha verdrängt. Das Verhältnis zu ihrer Familie, vor allem zu ihrer Mutter Lea, ist von Streit und Vorwürfen geprägt. Dazu kommt das Schweigen über ihre Urgroßmutter Dora. In wenigen Begegnungen zeichnet Mirna Funk nach, wie schwierig das Leben als "Dritte Generation" in einer Familie von Shoah-Überlebenden sein kann. Doch in Tel Aviv merkt Nike, dass ein Neuanfang nicht ohne weiteres möglich ist.
Nike: Ein Neustart in Tel Aviv?
So sieht sie auf dem Weg zur Arbeit zweihundert rote Schuhe, die Aktivistinnen als Zeichen gegen Gewalt an Frauen vor dem Habima-Theater aufgestellt haben. Sie stellt ihre eigenen dazu. Eine Demonstration von tausenden Frauen, die Nike mit ihren Freundinnen Yseult und Gabriela besucht, löst eine Panikattacke aus, aber sie erkennt auch, dass sie sich mit ihren Scham- und Schuldgefühlen auseinandersetzen muss. Sie beschließt, ihre Zähne neu richten zu lassen, die ihr damals von Sascha eingeschlagen wurden. Die Beschreibung des porösen Zahnrisses und wie Nike ihn reparieren lässt, entwirft die Autorin als ein eigenes schönes Bild für deren Heilungsprozess.
Traumatisierungen
Noam ist Kolumnist für die Haaretz, kann aber nicht davon leben. Seit dem Tod seines Vaters wohnt er mit seinem Onkel Asher, einem Sinnbild toxischer Männlichkeit, in einer kleinen heruntergekommenen Wohnung bei Tel Aviv. In Rückblenden wird drastisch erzählt, dass Noam Opfer eines schweren Kindesmissbrauchs wurde, über den er nie gesprochen hat. Doch kein Opfer zu sein hat große Bedeutung für ihn.
Über Traumatisierungen sagt er:
"Wir machen sie zu unseren Freunden und hören auf zu glauben, wir könnten sie irgendwann überwinden. Das wird nicht passieren. Sie sind da. Sie bleiben da. Und sie werden nicht weggehen."
Eindrücklich wird hier ein gebrochener Charakter beschrieben, der zwischen Narzissmus und Sehnsucht nach Sicherheit und Liebe schwankt.
Zur gleichen Zeit will Nike in Yad Vashem herausfinden, wann und wie ihre Urgroßmutter Dora ermordet wurde. Die Entdeckung der tragischen Umstände von Doras Tod machen ihr klar, wie sehr das Trauma der Shoah in ihrem Leben und dem Leben ihrer Familie präsent sind und sie versucht, diesem Trauma zu begegnen. Noams verdrängte Wut dagegen bricht aus, als Nike sich von ihm trennen will. Durch die Verdrängung erstarrt er buchstäblich. Für Nike jedoch scheint eine andere Zukunft möglich zu sein.
Resümee
Ähnlich wie in ihrem ersten Roman bettet Mirna Funk ihre Handlung in aktuelle Diskurse über das Judentum in Deutschland und Israel, transgenerationale Traumatisierungen in Familien von Shoah-Überlebenden und Misogynie gekonnt elegant ein. Es gibt eine kleine Referenz zu ihrem ersten Roman, doch in diesem Werk beschäftigt sich die Autorin viel mehr mit innerjüdischen Themen als mit Antisemitismus, der in "Winternähe" eine größere Rolle spielte. Auch für Leser*innen, die sich mit der Thematik auskennen, wird die Erzählweise und der psychologische Ansatz sehr spannend sein.
Die Transgenerationale Weitergabe von Traumata auf die Zweite und Dritte Generation ist ein neueres Forschungsfeld, in dem auch untersucht wird, wie die Weitergabe von Trauma zwischen der individuellen Psyche und dem kulturellen Gedächtnis einer Gruppe interagiert.
Als Beispiel einer autobiografischen Erzählung einer Person nachkommender Generationen Shoah-Überlebender erschien 2020 von Maya Lasker-Wallfisch ("Briefe nach Breslau. Meine Geschichte über drei Generationen"), die von ihrem Leben als Vertreterin der "Zweiten Generation" erzählt und sich auch mit der Weitergabe von Trauma beschäftigt.
AVIVA-Tipp: Mirna Funks Roman ist eine intensive Auseinandersetzung mit heutigem jüdischem Leben in Deutschland im Zusammenspiel mit aktuellen gesellschaftspolitischen Debatten. Ihr gelingt es mit Leichtigkeit, diese großen Themenkomplexe in ihr Buch einzuflechten und Auswirkungen seelischer und körperlicher Gewalt und Missbrauch darzustellen. Eine eingehende, berührende Lektüre.
Zur Autorin: Mirna Funk, geboren 1981 in Ostberlin. Ihr Debütroman "Winternähe" von 2015 wurde mit dem Uwe-Johnson-Förderpreis ausgezeichnet. Das Werk war ebenfalls für den aspekte-Literaturpreis 2015 sowie den Ulla-Hahn-Autorenpreis nominiert. 2018 erschien das Kinderbuch "Wo ist Papa?". Seit zwei Jahren erscheint ihre monatliche Kolumne "Jüdisch heute" in der "Vogue". Sie arbeitet als freie Journalistin für diverse deutsche und israelische Publikationen. "Zwischen Du und Ich", erschienen im dtv Verlag, ist ihr zweiter Roman.
Aktuell moderiert Mirna Funk im Wechsel mit Shelly Kupferberg und Miron Tenenberg einen neuen wöchentlichen Podcast, begleitet zu "1700 Jahre jüdischen Leben in Deutschland": 2021jlid.de/podcast
Mehr zu Mirna Funk und ihren Arbeiten als Journalistin, Moderatorin, Filmemacherin, Schriftstellerin: im Netz: mirnafunk.com
Auf Instagram: @mirnafunk www.instagram.com/mirnafunk
Mirna Funk
Zwischen Du und Ich
dtv Verlagsgesellschaft, Erscheinungstermin 19. Februar 2021
Gebunden, 304 Seiten
ISBN 978-3423282673
Euro 22,00
Mehr zum Buch unter: www.dtv.de
Leseprobe: www.dtv.de
Mehr Informationen:
Mirna Funks Beitrag in der Berliner Zeitung: "Juden in der DDR – Schmerz, Wut und eine eigene Geschichte" am 24.08.2020
www.berliner-zeitung.de
Mirna Funk im Gruppeninterview der Vogue Sonderausgabe "One World. One Hope" von September 2020
mirnafunk.com
Videos:
DAGESH Video-Portrait: Mirna Funk, Schriftstellerin & Journalistin
www.youtube.com
#WIRSINDJETZT. Videobotschaft von Mirna Funk zur Neueröffnung des Jüdischen Museums Frankfurt
www.youtube.com
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Mirna Funk - Winternähe Berlin-Mitte. Angesagte Gegend mit angesagten Menschen. Lola, 34, Fotografin, arbeitet in einer Agentur, ist (Ost)Deutsche, Jüdin und hat den Hals von ihrem antisemitischen Umfeld gestrichen voll. (2015)
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Der französische Neuropsychiater, Resilienzforscher und Bestsellerautor Boris Cyrulnik überlebte als "verstecktes Kind" den Holocaust. In seinem Buch "Mourir de dire la honte" beschäftigt er sich mit dem unbewusst innerseelisch ablaufenden Vorgang eines Individuums, das den Eindruck hat, es könne aus einem tiefgreifenden Gefühl der wiederholt erlebten Beschämung nicht über seinen erlittenen Schmerz sprechen. (2018)
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