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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 25.06.2021


Julia Korbik – Bonjour Liberté. Françoise Sagan und der Aufbruch in die Freiheit
Sabina Everts

Die Schriftstellerin Françoise Sagan wurde im Jahr 1954 im Alter von achtzehn Jahren über Nacht berühmt. Autorin Julia Korbik erzählt vom unerwarteten Erfolg einer jungen Frau, die für ihren freiheitlichen und autonomen Lebensstil weltweit gefeiert und verehrt wurde.




Mitte der 1950er Jahre erzielt in Frankreich der Debütroman einer bis dahin unbekannten Autorin einen schwindelerregenden Erfolg. Als Verleger René Julliard wenige Wochen zuvor dem schmalen Manuskript bei einer nächtlichen Leseeinheit seine Aufmerksamkeit widmet, erkennt er sofort die Einzigartigkeit seines Funds. Er will keine Zeit verlieren und gibt noch um vier Uhr nachts ein Telegramm an die Verfasserin, eine gewisse Françoise Quoirez, auf: "Erwarte Sie unbedingt um 11 Uhr in meinem Büro."

Doch elf Uhr in der Früh ist keine geeignete Zeit für jemanden, der sich am Tag von den Strapazen nächtlicher Eskapaden erholen muss. Die junge Frau, die später unter anderem aufgrund ihrer Liebe zu nicht enden wollenden Nächten als Prototyp einer neuen, hedonistischen französischen Jugend gefeiert werden wird, schläft heute erst einmal aus. Als sie am frühen Nachmittag erwacht, hat ihr Leben ohne ihr Wissen eine Wendung genommen. Françoise Quoirez wird berühmt werden. Berühmt, reich und ikonisiert. Sie wird sich mit den hellsten Köpfen der französischen Bohème umgeben und sich dabei leichtfüßig und intentionslos genau die Freiheiten nehmen, über die andere noch diskutieren.

Doch halt, nicht zu schnell, erst einmal muss ein neuer Name her, findet René Julliard. Die belesene Françoise zieht Marcel Proust zu Rate und wird fündig. Sagan. Françoise Sagan. Na, wenn das kein Name für eine erfolgreiche Schriftstellerin ist.

Im März 1954 ist es dann so weit: "Bonjour Tristesse" erscheint – und bricht los wie ein Lauffeuer. Der lakonisch-luftige Roman verkauft sich unzählige Male. Es folgen eine zweite, eine dritte, eine vierte Ausgabe in Auflagen von über 50 000 Exemplaren. Françoise hat einen Nerv getroffen und schon bald interessieren sich auch die Medien für die "petite bourgeoise". Zwei Monate nach Erscheinen des Debütromans wird Françoise bereits mit dem renommierten Prix de Critique ausgezeichnet. Was für ein brillanter Erfolg! Was für eine Geschichte! Wie kann es ab hier nur weitergehen?

Oh, Françoise!

Journalistin und Autorin Julia Korbik verrät im Format "5 Fragen an…" des Hanser Verlags, dass sie ihre Bücher schreibe, um selbst mehr über die von ihr portraitierten Menschen zu erfahren. 2017 galt ihre Faszination in ihrem Buch "Oh, Simone" der Philosophin Simone de Beauvoir. Über Françoise Sagan wusste sie vor ihrer Recherche wenig, bekannt waren ihr nur Françoises Debütroman und ihr rasanter Erfolg. Die Ambivalenz der ikonisierten Figur zwischen inspirierendem Vorbild und tragischer Figur, die drogensüchtig, krank und verarmt starb, weckte ihr Interesse. In "Bonjour Liberté" lässt Korbik Leserinnen an der Entdeckung einer ungewöhnlichen Individualistin teilhaben: "Sie musste immer darum kämpfen, die sein zu dürfen, die sie war und als die sie sich selbst sah. Sie wollte aufgrund ihrer Arbeit bewertet werden, nicht aufgrund ihrer Lebensweise."
In vier Kapiteln skizziert Korbik vor allem die Zeit während und nach Françoises Erfolg mit "Bonjour tristesse", ihr Coming-of-age, ihre sozialen und ihre Liebesbeziehungen und ihren Umgang mit plötzlicher Berühmtheit und Reichtum.

Sich in die Welt hinausschleudern – Bonjour, Jean-Paul! Bonjour, Simone!

Françoise Sagan ist eine ergiebige Protagonistin. Die Geschichte ihres Erfolgs liest sich nahezu märchenhaft, so außerordentlich ist die öffentliche Resonanz und so markant sind die Reife und Lässigkeit, mit der sie sich selbstsicher durch die Stromschnellen ihres unvermittelten Ruhms manövriert. Erst ein schwerer Autounfall im Jahr 1957, bei dem Françoise mit nur 22 Jahren beinahe ums Leben kommt, drosselt die ihrem bisherigen Werdegang innewohnende Nonchalance und bringt gleichzeitig mehr Tiefgang in Korbiks Porträt. Glamourös bleiben Françoises Leben und damit auch "Bonjour Liberté" dennoch bis zum Schluss. Den von ihr verehrten Sartre, das Idol einer ganzen Generation, besucht die "schelmische Lili"(Sartres Spitzname für Françoise) in regelmäßigen Abständen bis kurz vor seinem Tod 1980. "Wie Reisende auf einem Bahnsteig" plaudern sie nie über gemeinsame Bekannte oder eigene Erfolge, sondern über dieses und jenes und die Bücher, die sie beide hätten schreiben wollen.
Überhaupt liest sich "Bonjour Liberté" mitunter wie ein "Wer ist Wer?" der intellektuellen und künstlerischen Bohème der 1950er Jahre. Françoises späterer Ehemann, der selbst nicht ganz unbekannte Verleger Guy Schoeller, ist neben Größen wie Brigitte Bardot, Daniel Cohn-Bendit, Jean-Paul Sartre, Billie Holiday und Juliette Gréco nur ein kleines Licht am Sagan´schen Promihimmel. Selbst Simone de Beauvoir, die von Françoise "Bestreben, sich nichts vormachen zu lassen und selber nicht zu heucheln" sehr angetan ist, taucht nur in einer kleinen Gästinnenrolle auf und kommt sich gegenüber der wortwitzigen und unbeschwerten Françoise "mit ihren ordentlich formulierten Sätzen ´pedantisch´" vor.

"Die Sagan" ist eine, die die Freiheit liebt

In "Bonjour Liberté" gelingt es Julia Korbik, mit ungekünstelter Leichtigkeit von dem bewegten Leben einer Frau zu erzählen, die vieles war und wurde, ohne sich je bewusst dafür entschieden zu haben. Françoise Sagan war Existentialistin, ohne besonderes Interesse an theoretischen Überlegungen gehabt zu haben. Ihre mühelose Authentizität ist ein gelungener Gegenentwurf zur von Sartre kritisierten "mauvaise foi", der freiheitsvergessenen Unaufrichtigkeit der Nachkriegszeit. Sie ist Feministin, indem sie sich ihre Selbstbestimmung und Autonomie bewahrt, ohne dabei politisch zu sein. Sie ist intelligent, aber unverkopft, was ihren besonderen Charme ausmacht: "Ich bin hoffnungslos angezogen von allem, was nicht beruhigend ist, alles, was eine Lebensweise aufs Spiel setzt." Françoise Sagan ist privilegiert, ohne Frage, auch wenn ihre Privilegien ungewöhnlich sind für eine Frau im Frankreich der 1950er Jahre. Sie lebt auf großem Fuß, trägt teure Kleidung, fährt noch teurere Sportwagen, liebt das Glücksspiel und lässt sich nicht auf eine Version ihrer selbst festlegen.

Wie genau es dazu kommen wird, dass Françoise Sagan im Laufe ihres Lebens drogenabhängig werden und wegen Steuerhinterziehung zu einer Bewährungsstrafe verurteilt werden wird, erzählt Julia Korbik nur in Ansätzen. Es scheint, als gäbe es da noch mehr zu ergründen, in den Tiefen "der Sagan". In "Bonjour Liberté" bleibt sie erst einmal das "Everybody´s Darling", das sich "Freiheiten stibitzt" und dazu inspiriert, sich von Zeit zu Zeit selbst dem "Savoir-vivre" hinzugeben.

AVIVA-Tipp: Julia Korbiks biografischer Roman lädt ein in das rauschhafte Leben der jungen Françoise Sagan. Leserinnen begleiten die zur Kultfigur avancierte Autorin in verrauchte Jazz-Clubs im Paris der 1950er Jahre und an die einsamen Strände von Saint-Tropez. Sie rasen mit ihr in teuren Luxusautos an der südfranzösischen Küste entlang und stürzen sich mit ihr von einer Liebschaft in die nächste. Vor dem inneren Auge entstehen unterdessen bruchstückhaft Sagans einzigartige, melancholische Romane und paradieren prominente Figuren wie Simone de Beauvoir, Brigitte Bardot oder Juliette Gréco. Ein Buch, das im Sommer gelesen werden sollte, auf heißem Steinboden am Meer, wo das unbedingte Gefühl der Sagan´schen Freiheit mit den Flügeln schlagen kann.

Julia Korbik
Bonjour Liberté. Françoise Sagan und der Aufbruch in die Freiheit

Hanser Berlin, erschienen: März 2021
Hardcover, 304 Seiten
ISBN: 978-3446269446
20,00 Euro
Mehr zum Buch unter:: www.hanser-literaturverlage.de

Zur Autorin: Julia Korbik hat European Studies, Kommunikationswissenschaften und Journalismus studiert und arbeitet als freie Journalistin und Autorin in Berlin. Sie schreibt über Politik, (Pop-)Kultur, Feminismus und Alltag, ihre Texte erscheinen bei ze.tt, Vice Broadly, Libertine, This is Jane Wayne, Intro, fluter, Junge Welt, Cosmopolitan und Tagesspiegel. Im November 2018 wurde sie mit dem Luise-Büchner-Preis für Publizistik ausgezeichnet, 2019 wählte sie das Magazin "Emotion" zu einer der Frauen des Jahres. Bisher von ihr erschienen sind "Stand Up. Feminismus für Anfänger und Fortgeschrittene", "Oh, Simone! Warum wir Beauvoir wiederentdecken sollten" und "How to be a Girl. Stark, frei und ganz du selbst".

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Beitrag vom 25.06.2021

AVIVA-Redaktion