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Beitrag vom 29.06.2021
Joan Didion - Meisterin der kurzen Form
Claudia Rothe
Joan Didions neuer Essayband "Let me tell you what I mean" verhandelt die lebenslange Beziehung der heute 86 - jährigen Autorin zum Akt des Schreibens und blickt auf ihre Anfänge in den 1960ern zurück.
Im Sommersemester 1953, mit 19, saß sie schweigend und eingeschüchtert im "Creative Writing Workshop" der Berkeley University, reichte nur drei der fünf geforderten Short Stories ein und fiel fast durch den Kurs, weil ihr die Kommiliton*innen so weltgewandt und mondän erschienen und sie im Vergleich keine Geschichte fand, über die sie hätte schreiben können. Es leuchtet nicht auf den ersten Anschein ein, dass hier von Joan Didion die Rede ist, der seit sechs Jahrzehnten gefeierten Grande Dame der US-amerikanischen Essayistik, die fast an einem kleinen Schreibseminar an der Uni gescheitert wäre.
Chronistin der 1960er Counter-Culture
Dabei hat sich Didion seit Mitte der 1960er gerade mit ihren atmosphärischen und geschliffenen Essays, u.a. verfasst für die "Saturday Evening Post", den "New York Review of Books", "Vanity Fair" und "The New Yorker" ins US-amerikanische Bewusstsein des 20. Jahrhunderts eingeschrieben, und oft auf hellsichtige Weise die Befindlichkeiten ihrer Zeitgenoss*innen, wie auch ihrer selbst mit scharfem, analytischen Blick seziert. Ohne Didion besäßen wir nicht dieses einzigartige Zeitdokument, welches "Slouching towards Bethlehem" (1968) ist - ihre nüchterne Schilderung der Abgründe der kalifornischen Counter-Culture inklusive drogeninduzierter Verwahrlosung der Hippies im San Francisco der 1960er, die sie 1968 schlagartig berühmt machte. Ohne Didion gäbe es auch nicht diese seltsam intime Betrachtung von Linda Kasabian, Mitglied der Manson Family und Kronzeugin der bestialischen Ermordung der Schauspielerin Sharon Tate in Los Angeles 1969, welches sie 1979 als Titelstück ihres vielzitierten zweiten Essaybands "The White Album" veröffentlichte. So hielt sie im "White Album" auch das eigentliche Ende der 1960er schriftlich fest:
"Many people I know in Los Angeles believe, The Sixties ended abruptly on August 9, 1969, ended at the exact moment when word of the murders on Cielo Drive traveled like bushfire through the community, and in a sense this is true. The tension broke that day. The paranoia was fulfilled."
Didion war ebenfalls die erste, die im wochenlang in den Schlagzeilen stehenden "Central Park Jogger Case" (1989), die unmittelbare Beschuldigung und Verurteilung der vier afro- und hispanisch- amerikanischen Jugendlichen an der Vergewaltigung der Joggerin Trisha Meili auf strukturellen Rassismus zurückführte und dies eine amerikanische "kulturelle Krise" nannte.
Nüchterner Blick auf das (menschlich) Abgründige
Joan Didion schrieb über sechs Dekaden lang, genauso pointiert und wortgewandt, über die gottesgleiche Anbetung von Martha Stewart "("Everywoman.com", 2000)", oder die Liebe der Amerikaner*innnen zu John Wayne ("John Wayne, A Love Song", 1965), wie über den Bürgerkrieg in El Salvador ("Salvador" 1982), oder ihre ambivalente Beziehung zu ihrer Heimat Kalifornien ("Where I was from", 2003).
Als Autorin hatte sie dabei stets einen Blick für das (menschlich) Abgründige, das bisher im Verborgenen Gebliebene und auch das Unheimliche einer Geschichte. Und ein besonderes Talent für eine bildgewaltige, symbolträchtige Sprache, die sich stets an der Schwelle zur fiktionalen Prosa bewegt und doch der Wahrhaftigkeit verbunden bleibt.
So lauten die ersten Zeilen ihrer 1966 verfassten Erzählung "Some Dreamers of the Golden Dream", in denen sie in klassisch Didion-esquer Nüchternheit das Apokalyptische der abgeschiedenen, sozialschwachen kalifornischen Landstriche jenseits von LA, einfängt.
"This is a story about love and death in the golden land, and begins with the country. The San Bernardino Valley lies only an hour east of Los Angeles by way of the San Bernardino Freeway but is in certain ways an alien place: not the coastal California of subtropical twilights and the soft westerlies off the Pacific but a harsher California, haunted by the Mohave just beyond the mountains, devastated by the hot dry Santa Ana wind that comes down through the passes at 100 miles an hour and whines through the Eucalypts windbreaks and works on the nerves. October is the bad month for the wind, the month when breathing is difficult and the hills blaze up spontaneously. There has been no rain since April. Every voice seems a scream. It is the season of suicide and divorce and prickly dread, wherever the wind blows. (…)"
Telling Stories in order to live
Nun erschien im Frühjahr 2021 eine neue Essaysammlung Joan Didions unter dem Titel "Let me tell you what I mean" (Random House), die zwölf Aufsätze aus vier Jahrzehnten (1968-2000) vereint und auf besondere Weise ihren Selbstermächtigungsprozess zur Schriftstellerin verhandelt.
In dem Aufsatz "Telling Stories" des neuen Bandes berichtet Didion über ihre harten Lehrjahre als Merchandise Copy Writer beim "Vogue-Magazine" in New York City, nachdem sie mit 21 Jahren einen landesweiten Aufsatzwettbewerb gewonnen hatte, und in die Großstadt gezogen war, um zu schreiben. Vogue sollte ihre Schreibschule werden:
"At Vogue one learned fast, or one did not stay; how to play games with words, how to put a couple of unwieldy dependent clauses through the typewriter and roll them out transformed into one simple sentence composed of precisely thirty-nine characters. We were connoisseurs of synonyms. We were collectors of verbs."
In den über zehn Jahren bei der der "Vogue", in denen sie sich zum Associate Editor hocharbeite, begann sie auch, in der wenigen Zeit, die ihr blieb, am Abend und am Wochenende, für sich selbst zu schreiben, oder besser, die Bilder in ihrem Kopf, zu Wörtern und Sätzen auf dem weißen Papier in der Schreibmaschine zu formen. In den Jahren in New York, schwirrten ihr dabei immer wieder Bilder Kaliforniens durch den Kopf, von der gleißenden Sonne des Sacramento Valley, in dem sie aufgewachsen war: Aus diesen Bildern sollte später ihr erster Roman "Run River" entstehen, nicht Didions bestes Buch, aber ein Debüt, mit gerade 29.
Auch finden sich in "Let me tell you what I mean" so scharfsinnige und unterhaltsame Erzählungen, wie "Some Women" (1989) über ihren Besuch im Studio von Robert Mapplethorpe, und einen Nachmittag verbracht im Rosengarten von Nancy Reagan ("Pretty Nancy", 1968).
Die Unabdingbarkeit des Schreibens
Für die New York Times hatte sie 1976 "Why I write" verfasst, den zentralen Essay der neuen Anthologie, der ihre fast körperliche Unabdingbarkeit und mentale Dringlichkeit zum Schreiben darlegt "Had I been blessed with even limited access to my own mind, there would have been no reason to write: I write entirely to find out what I´m thinking, what I´m looking at, what I see and what it means. What I want and what I fear."
Und dann ist da noch "Last Words". Der beste Aufsatz der Sammlung, zuerst erschienen im "New Yorker" 1998, in dem sie ihre lebenslange Faszination für das schriftstellerische Talent Ernest Hemingways ausdrückt, dessen Short Stories und Romane sie als 13-jährige Schülerin immer wieder auf der Schreibmaschine abtippte, um seine besondere Art der Syntax, sein zurückgenommenes, kühles Arrangement der Worte zu erlernen, mit der Hoffnung, dies irgendwann imitieren zu können.
AVIVA-Tipp: Didion selbst hat das Schreiben 2011, mit 77 Jahren, aufgegeben. Doch dieser neu veröffentlichte Essayband versammelt noch einmal Texte, die zu ihren Anfängen zurückfinden, und erklären, wie sie wurde, wer sie heute ist. Eine der lautesten Stimmen der amerikanischen Literatur. "Let me tell you what I mean", sind außergewöhnlich lesenswerte Essays aus dem reichen Schatz von Didions Werk und sie werden hoffentlich nicht der letzte Erzählband dieser Art sein.
Zur Autorin:
Joan Didion, wurde 1934 in Sacramento, Kalifornien geboren. Sie absolvierte ein Bachelor-Studium in Englischer Literatur an der Berkeley University, bevor sie einen Aufsatzwettbewerb bei der "Vogue" gewann und als ersten Preis eine Anstellung als Research Assistant beim renommierten Fashion Magazine in New York City erhielt. Sie arbeitete sich in über 10 Jahren Tätigkeit für das Magazin zum Associate Features Editor hoch, bevor sie 1963 ihren ersten Roman "Run River" veröffentlichte. Im gleichen Jahr zog sie mit ihrem Ehemann, dem Schriftsteller John Gregory Dunne nach Los Angeles; Kalifornien zurück und schrieb jahrelang eine monatliche Kolumne für die "Saturday Evening Post" sowie eine Vielzahl von Beiträgen für andere Magazine, wie "The New Yorker" oder "New York Review of Books". Didion erlangte nationale Bekanntheit für ihre erste Essaysammlung "Slouching towards Bethlehem" (1968), für welche sie sehr viel positive Kritik erhielt, wie für ihren zweiten Roman "Play it as it lays", welcher 1972 verfilmt wurde. Ihr zweiter Essayband "The White Album" gilt als quintessentielles Gesellschaftsportrait der 1960er und 1970er in den USA. Zu ihrem späteren viel beachteten Werk gehören die Memoires "The Year of Magical Thinking" (2005) und "Blue Nights" (2011), in welchen sie über den tragischen Verlust ihres Ehemanns und ihrer Tochter Quintana Roo schreibt. Die Ikonisierung Joan Didions noch zu Lebzeiten hat mit einer eigens über ihr Leben und Werk produzierten Netflix-Dokumentation "The Center will not hold" (2017) und der Überreichung der "National Medal of Arts and Humanities" durch President Obama (2013) längst stattgefunden. Joan Didion lebt in New York City.
Mehr zu Joan Didion
www.thejoandidion.com/about (Zur Biographie der Autorin)
www.thejoandidion.com/books (Joan Didions Veröffentlichungen)
www.nybooks.com ("Sentimental Journeys", By Joan Didion, The New York Review, January 17th, 1991)
www.youtube.com (Der Trailer zur Netflix Dokumentation "The Center will not hold", 2017)
www.newyorker.com ("Last Words. Those Hemingway wrote, and those he didn´t." By Joan Didion, October 25, 1998)
www.newyorker.com (alle Beiträge von Joan Didion für den "New Yorker")
www.penguinrandomhouse.com (Joan Didion: The 1960s & 70s Collection including RUN RIVER / SLOUCHING TOWARDS BETHLEHEM / PLAY IT AS IT LAYS / A BOOK OF COMMON PRAYER / THE WHITE ALBUM, By JOAN DIDION Edited by David L. Ulin, 2019)
Copyrits Text + Fotos: Claudia Rothe