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Beitrag vom 27.01.2022
Ingeborg Bachmann – Ilse Aichinger und Günter Eich – Halten wir einander fest und halten wir alles fest! Briefe
Silvy Pommerenke
Zwei der bedeutendsten Nachkriegsschriftstellerinnen dokumentieren in diesem Briefwechsel eine Freundschaft mit unterschiedlichen biografischen Hintergründen: Aichinger war Holocaust-Überlebende, Bachmann hatte einen überzeugten Nazi zum Vater. Und doch entwickelte sich zwischen den Frauen eine innige Freundschaft, später auch zum Ehemann Aichingers, Günter Eich. Herausgegeben von Irene Fußl und Roland Berbig, erschienen in der Salzburger Bachmann Edition.
Für Ingeborg Bachmann, die Anfang der 1950er Jahre noch am Beginn ihrer schriftstellerischen Karriere stand, war die fünf Jahre ältere Ilse Aichinger, die bereits Berühmtheit erlangt hatte, ein großes Vorbild und eine Mentorin. Bachmann wurde von der Familie Aichinger/Eich als ein Familienmitglied aufgenommen, bekam den Spitznamen "Der dritte Zwilling" und ergänzte damit die Zwillingsschwestern Ilse und Helga Aichinger. Für Günter Eich hingegen war Bachmann "die kleine Schwester" und er unterschrieb seine Briefe an sie mit "großer Bruder". Diese Kosenamen geben einen Eindruck davon, wie nah sich die Frauen und die Familie Aichinger nebst Anhang waren.
Die Briefe und Postkarten drücken eine sehr liebevolle und innige Freundschaft aus, wobei die schriftlichen Zeitdokumente häufiger von Seiten des Ehepaares verfasst wurden.
Erste Zeichen der Entfremdung tauchten ab November 1954 auf. Ilse Aichinger schrieb: "Ich hatte früher öfter das Gefühl, dass du sehr weit weg gegangen wärst, nicht nur räumlich, dieses Gefühl hat dein Kommen wieder ausgelöscht und ebenso deine Briefe." Durch den Umzug Ingeborg Bachmanns nach Italien, ihrer enormen Arbeitsbelastung als freie Redakteurin (u.a. für den Wiener Radio-Sender Rot-Weiß-Rot und als Italien- Korrespondentin von Radio Bremen) und die Geburt des Sohnes von Ilse Aichinger nahmen die persönlichen Besuche ab. Die Kommunikation verlief nur noch über Briefe und Postkarten, zwischen denen öfter auch mehrere Wochen, gar Monate lagen. Aus dem Jahr 1955 sind nur drei Schriftstücke Aichingers vorhanden. Und auch hier deutet sich eine verstärkte Unstimmigkeit zwischen den beiden Schriftstellerinnen an: "Es schien mir nur plötzlich, als wäre es Dir nicht mehr das wichtigste, oder zählte Dir zum Wichtigsten, Freundschaften zu halten, als wäre Dir vieles wichtiger geworden, und deshalb war ich traurig, und hörte zu schreiben auf."
Diese Unstimmigkeiten konnten offensichtlich für mehrere Jahre wieder bereinigt werden, der Ton war von freundschaftlicher Zuneigung gekennzeichnet. Erst in den Jahren 1958/59 wurde die Korrespondenz wieder sparsamer und war nicht ganz so ausufernd in den Liebes- und Freundschaftsbeteuerungen. Bachmann hatte in dieser Zeit große Geldsorgen und eine noch größere Arbeitslast, unter der sie anscheinend fast zusammengebrochen war und die kräftezehrende Beziehung zu Max Frisch tat ihr Übriges. Bei der Familie Aichinger sorgten ebenfalls große Arbeitspensen und verschiedene Kranken- und Todesfälle zu einer reduzierten Korrespondenz. Dieses Mal war es Ingeborg Bachmann, die am 24. September 1959 schrieb (der letzte Brief Ilse Aichingers lag sechs Monate zurück): "In den Tagen danach meinte ich immer, unter der Post müsse ein Brief von Dir sein, eine Zeile wenigstens, aber da war nie einer, bis heute nicht. Und später wusste ich, dass ich schon viel länger auf einen Brief von Dir gewartet habe, obwohl das Telegramm mich glücklich machte und eine Weile anhielt, und dann war es kein Warten mehr, nur mehr ein Suchen, grundlos, krankhaft, nach dem Grund des Ausbleibens jeder Nachricht." Danach gab es eine einjährige Sendepause. Der wieder aufgenommene Briefverkehr hatte nichts mehr von der herzlichen Verbundenheit der beiden Frauen, und schließlich endete der Kontakt am 4. März 1962 gänzlich.
Als Grund für die Entfremdung sagte Ilse Aichinger später: "Ihre Freunde. Es war so fremd für mich, diese Welt, in der sie sich bewegt hat." Der Verlust der Freundschaft bewegte Ingeborg Bachmann noch viele Jahre später, als sie in einem Brief an Uwe Johnson schrieb: "Ich war damals so vollkommen verstört, noch Jahre danach, und erst in Rom, durch viel Distanz, ist das so gut geworden, dass ich, etwa vor einem Jahr einmal, beim "Räumen" die alten Briefe wiedergelesen habe, ohne Aufregung, nur im Erinnern, so denke ich mir, dass sehr alte Leute etwas wieder lesen und ein bisschen lächeln und sich denken, es war doch sehr schön es war auch richtig [...], und da dachte ich, es ist, so wie es für mich ist, gar nicht zu zerstören."
Der Briefwechsel thematisiert nie die unterschiedlichen Erfahrungen während der NS-Zeit der beiden Schriftstellerinnen, vielmehr sind es Alltäglichkeiten und Besonderheiten, wie es sie in anderen Leben auch gibt. Dazu zählen immer wieder Geldsorgen auf beiden Seiten (Bachmann und Aichinger unterstützten sich gegenseitig mit Geld, wenn es nötig war), Reisen, das Wetter, Umzüge, die Geburten der Kinder Aichingers, die Tagungen der Gruppe 47 (wenngleich nicht über die Inhalte der Tagungen berichtet wurde) und vieles mehr -, vor allem aber wirft er einen Blick auf die Rolle von Frauen im Literaturbetrieb nach 1950 und die ökonomischen Umstände von freiberuflichen Autor*innen.
Die Herausgeber*innen, Irene Fußl und Roland Berbig, resümieren: "Das Ungewöhnliche an dieser Freundschaft ist nicht, dass sie endete, sondern dass sie so lange bestand."
Biografisches
Ilse Aichingers Mutter, Berta Aichinger, war Ärztin, die nach der Einführung der "Nürnberger Rassegesetze" im Mai 1938 Berufsverbot erhielt und der das Mietrecht entzogen wurde. Die Behörden wiesen ihr ein Zimmer direkt gegenüber des Wiener Hauptquartiers der Gestapo zu, in dem sie mit Ilse die Nazizeit überlebte. Ilses Zwillingsschwester Helga konnte in einem der letzten Kindertransporte nach England fliehen. Die Ehe der Eltern war seit 1927 geschieden. Ihre Großmutter mütterlicherseits, ein Onkel und eine Tante wurden deportiert und ermordet. Trost fand Ilse Aichinger im Kreis der "Donnerstagskinder", einer Gemeinschaft, die sich vorwiegend aus "nichtarischen" Katholik*innen zusammensetzte. Der Betreuer dieser Gruppe, Pater Ludger Born, sollte später auch Ilse Aichinger und Günter Eich in Salzburg trauen.
Ingeborg Bachmanns Vater trat früh in die NSDAP ein, und sie führte mit ihren beiden Geschwistern und ihren Eltern ein wohlsituiertes Leben in Wien, während die jüdische Bevölkerung Österreichs schrittweise entrechtet und schließlich in die Konzentrationslager deportiert wurde. Bachmann verurteilte im Gegensatz zu ihrem Vater die NS-Ideologie, was in ihre frühe Erzählung "Das Honditschkreuz. Eine Erzählung aus dem Jahre 1813" von 1943 einfloss.
AVIVA-Tipp: Der Briefwechsel zwischen den drei Schriftsteller*innen ist ungemein spannend zu lesen, da er nicht nur die ökonomische Situation von Freiberufler*innen in der Nachkriegszeit beleuchtet, sondern auch die Rolle von Frauen im Literaturgeschehen nach 1950. Zugleich ist er ein Zeugnis von tiefer Freundschaft, die nach mehr als zehn Jahren in die Brüche gegangen ist. Der umfangreiche Stellenkommentar ergänzt den Schriftverkehr ungemein und gibt zahlreiche Informationen preis, die sich aus der reinen Lektüre der Briefe niemals ergeben würden.
Zu Ingeborg Bachmann: wurde am 25. Juni 1926 in Klagenfurt geboren. Sie begann schon als Schülerin zu schreiben. Sie studierte Philosophie in Innsbruck, Graz und schließlich in Wien. 1949 verfasste Bachmann ihre Dissertation über Martin Heideggers Existentialphilosophie. Anschließend trat sie eine Stelle beim US-amerikanischen Sender Rot-Weiß-Rot an, die zum Ausgangspunkt ihrer Rundfunkarbeit wurde. Die Freundschaft und Liebe zu dem Dichter Paul Celan hatte einen großen Einfluss auf ihr Denken und ihr Leben, wie in dem Briefwechsel "Herzzeit" nachzulesen ist. Ingeborg Bachmann gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen und Prosaschriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. 1953 erhielt sie den Literaturpreis der "Gruppe 47" für ihren Gedichtband "Die gestundete Zeit", wodurch ihr ein kometenhafter Aufstieg in der Literaturszene gelang. Daneben erhielt sie noch zahlreiche andere Preise, unter anderem 1959 den Hörspielpreis der Kriegsblinden, 1961 den Deutschen Kritikerpreis oder 1964 den Georg-Büchner-Preis. Ihr Erzählband "Das dreißigste Jahr" (1961) gilt als einer der wichtigsten deutschsprachigen Texte nach 1945. Sie starb am 17. Oktober 1973 in Rom.
Zu Ilse Aichinger: wurde am 1. November 1921 in Wien geboren, wo sie während des Zweiten Weltkriegs Zwangsarbeit leisten musste. Ab 1945 fünf Semester Medizinstudium. 1949/50 Lektorin beim Verlag S. Fischer in Wien. Ab 1951 Mitglied der "Gruppe 47". 1953 Heirat mit Günter Eich. Ab 1956 Mitglied der Akademie der Künste in Berlin. Mitglied des deutschen PEN-Zentrums. 1963 Übersiedlung nach Großgmain bei Salzburg. 1984 Übersiedlung nach Frankfurt am Main. Ab 1988 ständiger Wohnsitz in Wien. Mit ihrem einzigen Roman "Die größere Hoffnung", in dem sie ihre eigene Biografie in dem Schicksal ihrer jungen Protagonistin und "Halbjüdin" im Nationalsozialismus verarbeitete, wurde sie berühmt. Das Werk zählt neben dem "Mann ohne Eigenschaften" von Robert Musil zu den ersten dekonstruktiven und sprachthematisierenden Romanen der österreichischen Literatur, die sich auch mit historischen Gegebenheiten auseinandersetzten. Ilse Aichinger starb am 11. November 2016 in Wien.
Zu Günter Eich: wurde am 1.Februar 1907 in Lebus an der Oder geboren. . Ab 1927 veröffentlichte Eich – teils unter Pseudonym - erste Gedichte und Texte. 1932 brach er sein Studium der Sinologie in Berlin ab und arbeitete als freier Autor bei der Zeitung eines Freundes. 1933 begann er, Hörspiele (auch mehrteilig) für verschiedene deutsche Rundfunkanstalten zu schreiben.1939 wurde er als Kraftfahrer und Funker zur Luftwaffe einberufen. Bei einem Luftangriff 1943 auf Berlin gingen fast alle seine Manuskripte verloren. Nach dem Krieg veröffentlichte er weiter Gedichte, Prosa, Drehbücher, vor allem aber Hörspiele. 1947 wurde er Mitglied der Gruppe 47, deren ersten Preis er 1950 bekam. 1953 Heirat mit Ilse Aichinger. Es erschien die erste Sammlung von Hörspielen bei Suhrkamp. Verleihung des Hörspielpreises der Kriegsblinden. 1963 übersiedelte er nach Salzburg. 1968 erhielt er den Schiller-Gedächtnispreis des Landes Baden-Württemberg. 1967 nahm er an der letzten Tagung der Gruppe 47 teil. Am 20. Dezember 1972 starb Eich in Salzburg.
Zur Herausgeberin: Dr. Irene Fußl geboren 1978 in Graz, studierte Vergleichende Literaturwissenschaften und Germanistik in Wien und Salzburg. Seit 2013 ist sie Mitarbeiterin des Literaturarchivs Salzburg. Vorher absolvierte sie Stationen an der Bowling Green State University in Ohio und der University of Alberta in Kanada. Sie ist gemeinsam mit Hans Höller Gesamtherausgeberin der Salzburger Bachmann Edition.
Zum Herausgeber: Roland Berbig geboren 1954 in Quedlinburg, ist Literaturwissenschaftler und war von 2000 bis 2019 außerplanmäßiger Professor für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist Vorsitzender der Theodor Fontane Gesellschaft. Seine Forschungsschwerpunkte liegen, neben der Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere bei Theodor Fontane, Günter Eich, Uwe Johnson und der DDR-Literatur.
Ingeborg Bachmann – Ilse Aichinger und Günter Eich – Briefe – "Halten wir einander fest und halten wir alles fest!" Briefe
Suhrkamp Verlag, erschienen 10/2021
Herausgegeben von Irene Fußl und Roland Berbig
Gebundenes Buch, 379 Seiten
ISBN 978-3-518-42617-3
Euro 40,00
Mehr zum Buch unter: www.suhrkamp.de
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