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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 21.03.2022


Somerville & Ross: Durch Connemara. Mit dem Eselskarren in Irland
Bärbel Gerdes

Edith Somerville und Violet Martin nehmen uns mit auf ihre abenteuerliche Reise im Westen Irlands. Pointiert, klug und voller Witz lassen sie die Leserin durch einen lebhaften und höchst amüsanten Reisebericht traben.




Es ist im auslaufenden 19. Jahrhundert, als die beiden Schriftstellerinnen und Großcousinen Edith Somerville und Violet Martin sich auf den Weg machen, um Connemara zu erkunden. Connemara gehört zur Grafschaft Galway; Violet kam dort 1862 zur Welt als jüngste von sieben oder fünfzehn Geschwistern – die Zahl variiert.

Dicht an der Realität, mit einer bildhaften Sprache und mit überbordendem Humor schreiben die zwei diesen Reisebericht, der in der Zeitung, aber auch als Buch erscheinen soll – die beiden Frauen möchten und müssen Geld verdienen, denn sie haben sich – gegen alle Widerstände – für ein unabhängiges Leben entschieden.

Zunächst müssen sie ein geeignetes Gefährt finden, einen Eselskarren oder ein Ochsengespann, was nicht so einfach ist, weshalb sie auch halb verschämt zugeben müssen, dass sie die erste Strecke im Postwagen zurücklegen mussten. Überhaupt diese Wagen: Portechaise, Jaunting Car, Brougham und Bianconi Car fliegen der Leserin die Vokabeln um die Ohren, die dankenswerterweise von der Herausgeberin Elvira Willems in einem Glossar erklärt werden.
Schließlich wird es der Gouvernantenwagen, der zwei Personen und eine annehmbare Menge Gepäck aufnehmen kann, darunter so höchstwichtige Sachen wie einen karierten Schirm und einen Picknickkorb, aber auch eine Gummibadewanne und einen rostigen Revolver.

Die beiden Frauen fahren durch ein Irland, das sich im 19. Jahrhundert stark verändert hat. Seit 1541 stand das Land unter englischer Besatzung. Die irische Unabhängigkeitsbewegung wurde durch die furchtbare Hungerskatastrophe 1845 – 1849 weiter befeuert. Der Great Famine fielen mehr als 1 Million Menschen zum Opfer, zwei Millionen Menschen emigrierten. Ein erheblicher Druck wurde auf die englischen und anglo-irischen Großgrundbesitzer ausgeübt, der durch aktiven und passiven Widerstand der Pächter noch erhöht wurde. Auch Edith Somerville und Violet Martin waren von den Auswirkungen betroffen, stammten sie doch beide aus dem irischen Landadel. Violets Vater war so sehr bemüht, seine Pächter und deren Familien am Leben zu erhalten, dass er sich selbst in den Ruin trieb.
Drei Jahrzehnte kämpfte die Irish Land League bis 1903 der irische Boden wieder in den Besitz der irischen Bauern fiel.
Diese Geschichte wiederum erfahren wir in einem höchst lesenswerten und spannenden Nachwort ebenfalls von Elvira Willems.

1890 aber sind die beiden Reisenden auf der Suche nach einem passenden Tier für ihren Wagen und finden Sibbie! Es scheint, als wäre sie die Hauptperson dieser Reise und dieses Berichts: Sibbie, die langbeinige, langohrige braune Eselin, die ´n bisschen sonderlich im Kopf ist, die des öfteren ein mürrisches und affektiertes Gesicht aufsetzt und die lieber ein Wirtshaus, einen Schweinestall oder eine Ruine ohne Dach besuchen würde, als auf der Straße zu laufen. Dennoch keimt in den beiden Frauen sofort eine entschiedene Verehrung für Sibbie auf.

Mit klugen und höchst amüsanten Seitenhieben wird die boomende Tourismusindustrie aufs Korn genommen. Distinguierte Menschen aus England möchten das wilde und ursprüngliche Irland betrachten. Die beiden Großcousinen treffen auf Angler, die nichts fangen und sich so benehmen, wie Touristen sich leider oft benehmen.
Sie verfahren sich und landen in Hotels, in denen sich die Hunde zu einem tintig-schwarzen Haufen zusammenrollen. Sie kämpfen mit scharfen Winden, peitschendem Regen und sehen Seen, die sich kräuseln bis sie aussehen wie ein Kastilianer Huhn.

Es ist diese lebendige, adjektiv- und metaphernreiche Sprache, die diesen Reisebericht zu einer höchst vergnüglichen Lektüre macht. Und hier muss Elvira Willems ein weiteres Mal genannt werden, denn sie hat diesen Text auf wirklich hervorragende und der Zeit gerecht werdende Weise ins Deutsche übersetzt.

Das Schreiben von Reiseberichten war eine effektive Möglichkeit, Geld zu verdienen. Edith Somerville und Violet Martin waren Großcousinen, die sich jedoch erst 1886 kennenlernten als Edith 27 und Violet 23 Jahre waren. Ihre Kindheit unterschied sich sehr voneinander. Edith Somerville wuchs mit ihren Geschwistern und vielen Cousinen in einer lebendigen Familie auf, in der Picknicks veranstaltet, Theater aufgeführt und spiritistische Sitzungen abgehalten wurden. Violet Martin hatte als jüngstes Kind der Familie eine einsame Kindheit, in der sie viel las und viel Zeit mit ihrer Mutter verbrachte. Sie wurde eher sich selbst überlassen.

Edith Somerville beschreibt das Kennenlernen von Violet als Angelpunkt meines Lebens, den Ort, an dem mein Schicksal und ihr Schicksal umschlugen. Denn schon bald gingen die beiden eine sehr enge Liebes- und Arbeitsbeziehung ein. Edith, die viele Jahre Zeichenunterricht genommen hatte und ihre Ausbildung in Düsseldorf und Paris vervollkommnete, illustrierte den ersten gemeinsamen Artikel der beiden, der 1886 in The Graphic erschien und in dem es um Handlesekunst ging.
Bereits 1887 planten sie einen gemeinsamen Roman. Diese Idee wurde von ihren Familien mit Spott und Hohn aufgenommen, der abrupt endete, als 1889 mit An Irish Cousin dieser Roman tatsächlich erschien.
Schon zuvor hatten beide kürzere Texte veröffentlicht: Edith Somerville zunächst unter dem Namen Viva Graham, danach jedoch unter ihrem richtigen Namen, obgleich ihre Mutter heftig dagegen protestierte.
Violet Martin publizierte von Anfang an unter dem Pseudonym Martin Ross.
Beide waren wild entschlossen, unabhängig zu bleiben und genügend Geld zu verdienen, um sich dieses Leben auch leisten zu können. So war es selbstverständlich, dass sie sich bei den Suffragetten engagierten und für Frauenrechte protestierten.

Im Verlauf ihrer 26jährigen Zusammenarbeit verfassten sie unter dem Namen Somerville & Ross ein beeindruckendes Werk: neben fünf Romanen, drei Bänden mit Erzählungen über den irischen Resident Magistrate, drei Reisebüchern und vier Sammlungen mit Kurzgeschichten, schrieben sie zahlreiche Beiträge und Artikel für Zeitschriften und Zeitungen.

Als ihr Meisterwerk gilt Die wahre Charlotte, das 1954 im Manesse-Verlag erschien und das bislang das einzige Werk der beiden Schriftstellerinnen war, das ins Deutsche übersetzt wurde.

In einer wunderbaren Ausgabe, die nicht nur zahlreiche Fotos der beiden Schriftstellerinnen enthält, sondern auch Zeichnungen von Edith Somerville, hat der AvivA-Verlag einen weiteren Schatz gehoben. Mögen auch die anderen Romane dieses höchst humorvollen Duos übersetzt werden!

AVIVA-Tipp Mit Verve, Witz und Klugheit berichten Edith Somerville und Violet Martin von ihrem Reiseabenteuer durch Connamara. Ein rasant zu lesender Bericht mit einer nur allzu individuellen und herzerobernden Eselin.

Die Autorinnen: Edith Œnone Somerville wurde am 2. Mai 1858 auf Korfu, Griechenland, geboren. Ein Jahr nach ihrer Geburt übersiedelten die Eltern nach Castletownshend, Cork, Irland. Sie absolvierte zwei Jahre auf dem Alexandra College in Dublin und begann Ende der 1870er Jahre ihre künstlerische Ausbildung an der South Kensington School of Art. Zu Beginn der 1880er Jahre nahm sie Kunstunterricht in Düsseldorf und in Paris. In den 1880er und 1890er Jahren reiste sie immer wieder nach Paris, um ihre Zeichen- und Malkünste zu vervollkommenen. Sie starb am 8. Oktober 1949 und wurde neben Violet Martin beigesetzt.

Violet Florence Martin kam am 11. Juni 1862 im County Galway zur Welt. Als jüngstes Kind verbrachte sie eine eher einsame Kindheit. In Dublin ging sie auf das Alexandra College und bildete sich durch intensive Lektüre selbst weiter. Bereits in den 1880er Jahren schrieb sie unter dem Pseudonym Martin Ross politische Kommentare. Sie starb am 21. Dezember 1915.

Somerville & Ross
Das Autorinnenduo
veröffentlichte zahlreiche Romane, Kurzgeschichten und Artikel. Zu ihrem Meisterwerk gehört The Real Charlotte, der 1894 erschien.

Die Herausgeberin und Übersetzerin: Elvira Willems hat Germanistik und Komparatistik studiert und Ende der 1980er Jahre eine Magisterarbeit über reisende Frauen im 19. Jahrhundert in Italien geschrieben. Sie arbeitete als Buchhändlerin, Bibliotheksmitarbeiterin, Verlagsleiterin und Pressefrau, bevor sie sich 1996 als Literaturübersetzerin aus dem Englischen und als Lektorin selbstständig machte. Die reisenden Frauen haben sie nie ganz losgelassen: Sie hat eine Tagung über Annemarie Schwarzenbach in Sils/Engadin veranstaltet und den dazugehörigen Tagungsband herausgegeben, Aufsätze und Rezensionen zum Thema verfasst und deutschlandweit in vielen Buchhandlungen und Bibliotheken über »Reisende Frauen in aller Herren Länder« gesprochen. (Verlagsangaben)

Somerville & Ross
Durch Connamara. Mit dem Eselskarren in Irland

Originaltitel: Through Connamara in a Governess Cart
Herausgegeben, übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Elvira Willems
AvivA Verlag, erschienen am 15. März 2022
168 S., Hardcover mit Leseband
ISBN 978-3-949302-03-9
Euro 20,00
Zum Buch: www.aviva-verlag.de

Veranstaltung Lübeck, 24. April 2022 um 13.30 Uhr
Übersetzerin und Herausgeberin Elvira Willems und Verlegerin Britta Jürgs stellen die Neuerscheinung auf der schönen Messe unabhängiger Verlage DIE BUCHMACHER vor.
Mehr Infos: www.aviva-verlag.de

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Beitrag vom 21.03.2022

Bärbel Gerdes