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Beitrag vom 07.04.2022
Anna North - Die Gesetzlose
Joanna Piekarska
1894, der Wilde Westen. Die siebzehnjährige Ada wird wegen ihrer Unfruchtbarkeit verstoßen und schließt sich der berühmt-berüchtigten Hole-in-the-Wall-Gang an. Journalistin und Autorin Anna North erzählt in ihrem neu erschienenen Roman die Geschichte einer Gruppe Geächteter - voller Überraschungen und fern ab von Schubladendenken.
"Im Jahr des Herrn 1894 wurde ich zur Gesetzlosen. Wie so vieles im Leben geschah auch das nicht von heute auf morgen."
Mit diesen Worten beginnt der neue Roman (der erste, der auf Deutsch erschienen ist) von Anna North, Reporterin beim US-amerikanischen Nachrichtenportal VOX. Sie nimmt die Leserin mit in den Wilden Westen, in ein fiktives Nord-Amerika des späten 19. Jahrhunderts, wo nach einer Grippewelle viele Frauen unfruchtbar werden. Um den Geburtenrückgang auszugleichen, wird den Frauen in der Stadt Fairchild eine einzige Aufgabe auferlegt: Kinder gebären. Mütter gelten als wertvoll, unfruchtbare Frauen werden geächtet.
Protagonistin der Geschichte ist die siebzehnjährige Ada, die genau wie ihre Mutter Hebamme werden möchte. Wie so viele Frauen um sie herum, kann auch Ada nach einem Jahr Ehe ihrer "weiblichen Pflicht" immer noch nicht nachkommen und schwanger werden. Als dann auch noch eine Frau ihr Kind verliert, während Ada ihrer Mutter bei deren Entbindung assistiert, wird sie verdächtigt, verflucht zu sein und Unglück zu bringen.
Eine Gang voller Ãœberraschungen
Ada wird verstoßen und schließt sich der gefürchteten Hole-in-Wall-Gang an, die seit Jahren ihr Unwesen in der Gegend treibt und für zahlreiche Überfälle verantwortlich ist. Ada wird in den Kreis der Gesetzlosen aufgenommen und stellt fest, dass diese ganz anders sind als der Ruf, der ihnen vorauseilt, und als sie selbst anfangs dachte.
So wird auch der Leserin unfreiwillig und auf´s Unbequemste das eigene Schubladendenken vor Augen geführt. Mit ihren Beschreibungen einer furchteinflößenden, scharf schießenden und skrupellosen Gang zeichnet Anna North provokativ das stereotype Bild einer Gruppe von Männern, angeführt von "Kid", ohne jedoch je explizit zu sagen, welches Geschlecht die Gangmitglieder haben. Umso ertappter fühlt sich die Leserin, als sie zusammen mit Ada erfährt, dass die Hole-in-the-Wall-Gang überwiegend aus Frauen besteht, die sich bei ihren Überfällen als Männer verkleiden, und "Kid" weder "er" noch "sie", sondern einfach nur "Kid" ist.
Charismatisch und fair, aber psychisch instabil, verfolgt Kid die Vision, einen sicheren Raum für verstoßene Frauen zu schaffen. Das Leben als Gesetzlose in der Hole-in-the-Wall-Gang ist jedoch nicht genug, stattdessen entwickelt Kid einen Plan, der das Ziel hat, irgendwann die ganze Stadt zu beherrschen. Die Umsetzung dieses Plans könnte die ganze Gruppen jedoch das Leben kosten. So muss Ada sich entscheiden, wie viel sie bereit ist, für eine bessere Zukunft zu riskieren.
Frei von Geschlechterrollen
Die Leserin begleitet Ada, wie sie erwachsen wird und sich verliebt, wie sie reiten und schießen lernt, wie sie immer mehr zu einem vollwertigen Mitglied der Hole-in-the-Wall-Gang und schließlich zu einer Gesetzlosen wird. Sie trennt sich von ihrem alten Leben, in dem Gender die entscheidende Kategorie für die Gesellschaft war, und beginnt ein neues Leben, frei von Gesetzen und Geschlechterrollen.
"Die beiden Leben waren nur noch durch meinen Körper verbunden, durch sein inneres Versagen, welches das alte Leben unmöglich gemacht und das neue eingeläutet hatte."
Mit den starken weiblichen und nicht-binären Charakteren zeigt Anna North, dass Frauen mehr sind, als die Rolle, die die Gesellschaft für sie vorgesehen hat und Erfüllung außerhalb des Mutter-Seins finden können und dürfen. Anna North schafft so eine inspirierende Geschichte mit originellen Charakteren, die sich leicht runterlesen lässt, ohne seicht zu sein. Und auch wenn die Geschichte fiktiv ist: Die Gesellschaftskritik ist es nicht.
AVIVA-Tipp: Die etwas andere Coming-of-Age-Geschichte: Unerwartet, ermutigend und inklusiv. Anna North bringt Feminismus in das Genre Western und Western ins 21. Jahrhundert.
Zur Autorin: Anna North ist in Los Angeles aufgewachsen und arbeitet heute als Journalistin und Autorin. Sie hat den Iowa´s Writers Workshop an der University of Iowa absolviert. Ihre journalistischen Arbeiten, deren Schwerpunkt auf Gender-Thematiken liegt, sind u.a. in Vox, Jezebel, BuzzFeed, The Atlantic und der New York Times erschienen. Bisher hat sie drei Romane veröffentlicht: "America Pacifica" (2011), "The Life and Death of Sophie Stark" (2015), für den sie mit dem Lambda Literary Award und dem Prix des lecteurs et des lycéens de Vincennes ausgezeichnet wurde, und schließlich "Outlawed" (2020). "Outlawed", "Die Gesetzlose", ist in zahlreichen Länder erschienen und das erste Buch von Anna North, das auf Deutsch übersetzt wurde. Anna North lebt in Brooklyn.
Mehr zur Autorin: www.annanorth.net, www.instagram.com und www.twitter.com
Zur Übersetzerin: Sonia Bonné studiert Informatik, übersetzt aus dem Englischen und lebt in Berlin.
Anna North
Die Gesetzlose
Originaltitel: Outlawed
Übersetzerin: Sonia Bonné
Eichborn Verlag, erschienen am 25.03.2022
335 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-8479-0101-3
20,00 Euro
Auch verfügbar als E-Book
ISBN: 978-3-7517-2060-1
Mehr zum Buch unter: www.luebbe.de
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