AVIVA-Berlin >
Literatur
AVIVA-BERLIN.de im November 2024 -
Beitrag vom 01.10.2022
Andrea Tompa - Omertà . Buch des Schweigens
Silvy Pommerenke
Vier Protagonist*innen führen durch diesen fast eintausendseitigen historischen Roman. "Omertà " ist das ungeschriebene Gesetz der Mafia, das seine Mitglieder an eine Schweigepflicht bindet. Für die Romanfiguren ist es tatsächlich besser über die politischen Umstände im ungarisch-rumänischen Széklerland zu schweigen. In den 1950er und 1960er Jahren könnte das lebensgefährlich für sie sein. Aus dem Ungarischen übersetzt von der Büchner-Preisträgerin Terézia Mora.
Bevor das Széklerland zu einer ungarisch autonomen Region innerhalb Rumäniens wurde, besetzten es 1944 zuerst die Rote Armee und in Folge Rumänien. Zwei Jahre später wurde durch die Pariser Friedenskonferenz die ungarisch-rumänische Grenze aus der Vorkriegszeit wiederhergestellt. Eine mehr als verwirrende Landesgeschichte, von denen die vier Protagonist*innen aus "Omertà " stark betroffen sind.
Die drei Frauen Kali, Annuschka und Eleonóra bilden die Rahmenhandlung um die eigentliche Hauptfigur des Romans, Vilmos. Er ist ein Einzelgänger, lebt abgeschieden und sein einziger Lebensinhalt ist das Züchten von Rosen – eine Fähigkeit, die er sich autodidaktisch angeeignet hat. Ziemlich unpolitisch, möchte man meinen, aber in den fünfziger und sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts konnte auch das im Széklerland zu politischen Konflikten führen. Vilmos muss seine privaten Rosenzüchtungen bald schon in den Dienst des Staates stellen. Obwohl ihm das offensichtlich missfällt, lässt er sich darauf ein.
Bevor es aber so weit kommt, wird Kali in die Handlung eingeführt. Sie ist eine Magd, die vor ihrem gewalttätigen Ehemann geflohen ist. Um finanziell auf eigenen Beinen zu stehen, nimmt sie eine Anstellung als Hausmädchen bei Vilmos an. Die Arbeitsbedingungen sind ausgesprochen gut, und aus dem Dienstverhältnis entspinnt sich bald schon eine feste Beziehung, aus der ein Kind hervorgeht. Zu einer Heirat ist Vilmos aber nicht bereit, das, so erklärt er, würde sich negativ auf seine Karriere auswirken. Stattdessen leben Kali und ihr Kind in einem eigens gekauften Haus von Vilmos, wo er sie regelmäßig besucht Durch eine Dozententätigkeit an der Universität und der Verstaatlichung seines Rosenzüchter-Betriebs (auf Kosten von Bauern, die dafür enteignet wurden), kann er sich das finanziell leisten. Allerdings muss er dafür der kommunistischen Partei beitreten und vor allem linientreu sein.
Es ist eine ständige politische Gratwanderung für Vilmos. Kolleg*innen von ihm werden wegen Banalitäten ins Gefängnis verbracht und es kommt vermehrt zu Suiziden. Selbst die Namenswahl seiner neu gezüchteten Rosen muss er einem politischen Test unterwerfen, um nicht mit den sowjetischen Politobersten aneinanderzugeraten. Auch in den ungarischen Volksaufstand von 1956, der gegen die sowjetische Besatzungsmacht gerichtet ist, gerät Vilmos indirekt. Aber auch hier weiß er sich durch die Zeit zu lavieren, indem er sich opportunistisch verhält und keine Stellung bezieht. Sympathisch ist diese Figur der Leserin nicht, die sich mehr als einmal wünscht, er möge aufbegehren. Aber vergeblich. Er ist explizit an seinen Blumen und den Frauen interessiert, ein Mitläufer, der die politischen Gegebenheiten um sich herum nur aus den Augenwinkeln betrachtet.
Eine weitere Frau, die sein Begehren weckt, ist die mehr als dreißig Jahre jüngere Annuschka, die bei ihrem gewalttätigen Vater lebt und deren ältere Schwester Rózsika - die den Namen Eleonóra als Nonne angenommen hat - von der Miliz verhaftet worden ist und Opfer der politischen Säuberungen wird. Die Anklage lautet auf Vaterlandsverrat und sie erhält eine zehnjährige Haftstrafe. Annuschka, die trotz des großen Altersunterschiedes eine Beziehung mit Vilmos eingegangen ist, bittet ihn um Hilfe für ihre Schwester. Aber auch hier stellt er sein berufliches Weiterkommen über alles andere und kümmert sich nicht - wie versprochen - um die Freilassung der Schwester. Annuschka zieht die Konsequenzen und trennt sich von ihm.
Eleonóra hingegen kann sich konsequentes Handeln nicht leisten. Die Jahre im Gefängnis haben ihre Gesundheit ruiniert, und für eine vorzeitige Haftentlassung muss sie eine Schweigepflichterklärung über ihre Zeit im Gefängnis unterschreiben. Aus der Not heraus tut sie dies, wohlwissend, dass sie künftig ihren Glauben geheim halten muss und ihre körperlichen und seelischen Spuren aus der Inhaftierung niemals heilen werden.
Die knapp eintausend Seiten des Romans erfordern einiges von der Leser*in ab. Nicht nur, dass sich die politische Situation nicht auf den ersten Blick erschließt, da bedarf es einiges an historischem Hintergrundwissen, das Andrea Tompa nicht liefert, sondern vor allem ist er auch extrem langatmig geraten. Die vier Kapitel sind als Bücher bezeichnet und jedes hat auch seine eigene Berechtigung. Vielleicht wäre es ratsamer gewesen, die Kapitel denn auch tatsächlich als einzelne Bücher zu veröffentlichen. Durch die starke Fokussierung auf den männlichen Protagonisten geraten die weiblichen Figuren nahezu zu Randerscheinungen, und deren Abhängigkeit von Vilmos wird stark überzeichnet. Dabei sind sie von ihrer Grundcharakterisierung durchaus kraftvoll und individuell angelegt. Ein größeres Eigenleben und mehr Autonomie hätte ihnen gut getan. Zwar werden die Querverbindungen und Beziehungen zwischen den vier Figuren detailliert über einen Zeitraum von knapp zwanzig Jahren entwickelt, aber der politische Rahmen, in den die Geschichte eingebettet ist, verliert dabei stellenweise an Bedeutung.
Andrea Tompa hat ihre eigene Herkunft in diesen Roman verwoben. Geboren 1971 in Cluj-Napoca (ungarisch Kolozsvárt / deutsch Klausenburg), dem Ort aus "Omertà ", gehörte sie ebenfalls zur ungarischen Minderheit in Rumänien. Sie hat das Regime CeauÈ™escus in den Siebziger- und Achtzigerjahren mitelebt und emigrierte 1990 nach Ungarn, wo sie Slawistik studierte. Sie promovierte über Vladimir Nabokov, arbeitete von 2000 bis 2008 am Theaterinstitut und Museum in Budapest und schrieb bis 2015 Theaterkritiken für die Zeitschrift SzÃnház. Seit 2008 nimmt sie einen Lehrauftrag an der BabeÈ™-Bolyai-Universität Cluj wahr. Andrea Tompa hat bereits drei Romane veröffentlicht, wovon "Omertà " der erste ins Deutsche übersetzte ist. Sie erhielt verschiedene Stipendien und Auszeichnungen, darunter 2015 den Sandor-Marai-Preis. 2019 wurde sie in die Széchenyi-Akademie für Literatur und Kunst aufgenommen.
Andrea Tompa und Terézia Mora (Büchner-Preisträgerin von 2018) als Übersetzerin wurden 2022 mit "Omertà " für den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt nominiert.
AVIVA-Tipp: Andrea Tompa entwickelt auf knapp eintausend Seiten einen historischen Rückblick ihrer Heimat, dem Széklerland. Das ungarische Gebiet auf rumänischem Boden stand unter stalinistischer Herrschaft und die Bevölkerung wurde von der rumänischen Securitate drangsaliert. Ihre vier Protagonist*innen sind politischen Säuberungen, Gewalt und permanenter Gefahr ausgesetzt, deren einziger Motor die Selbsterhaltung ist. Tompa ist dabei nicht moralisierend in ihrem Erzählen und benutzt konsequent die Ich-Perspektive, die manches Handeln der einzelnen Figuren erklärbarer macht.
Zur Autorin: Andrea Tompa, geboren am 4. Juli 1971 im ungarischen Klausenburg (Cluj Napoca). 1990 emigrierte sie nach Budapest. Sie machte ihren Abschluss an der Philosophischen Fakultät der ELTE und promovierte im Jahr 2004 mit einer Dissertation über Theater und Theatralität im Werk von Vladimir Nabokov. Seit 2008 unterrichtet sie an der Fakultät für Theater und Fernsehen der BabeÈ™-Bolyai-Universität in Cluj-Napoca. Von 2009 bis 2015 war sie Direktorin der Gilde der Theaterkritiker. Von 2015 bis 2020 war sie Chefredakteurin der Zeitung SzÃnház, seit 2020 ist sie Vorsitzende des Kuratoriums Theaterstiftung.
2010 erschien ihr Romandebut "Das Haus des Henkers - Geschichten aus dem Goldenen Zeitalter" ("A hóhér háza. Történetek az aranykorból"), wofür sie den Debütpreis für ungarische Literatur von Siebenbürgen erhielt. 2013 veröffentlichte sie den Roman "Von Kopf bis Fuß. Zwei Ärzte in Transsilvanien" ("Fejtől s lábtól. Kettő orvos Erdélyben") und 2017 "Omertà . Buch der Stille", das 2022 ins Deutsche übersetzt wurde.
Andrea Tompa erhielt diverse Stipendien und Preise. Unter anderem 2015 den Márai-Sándor-Preis, 2017 den polnischen Natalia-Gorbaniewska-Preis und im gleichen Jahr den Libri-Literaturpreis. 2022 wurde sie mit "Omertà " ("Omerta. Hallgatások könyve") für den Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt nominiert und stand auf der ORF-Bestenliste September 2022.
Andrea Tompa
Omertà - Buch des Schweigens
Originaltitel: Omerta. Hallgatások könyve
Übersetzt von Terézia Mora
Suhrkamp Verlag, erschienen 03/2022
Gebunden, 954 Seiten
ISBN 978-3-518-43061-3
Euro 34,00
Mehr zum Buch unter: www.suhrkamp.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Zsófia Bán – Weiter atmen. Erzählungen. Zsófia Bán – Der Sommer unsres Missvergnügens. Essays Sowohl in ihren Erzählungen als auch ihren Essays knüpft die ungarische Autorin Zsófia Bán auf beeindruckende Weise weltweite Zusammenhänge, die ihr umfassendes Wissen von Literatur- und Kunstgeschichte deutlich machen. (2020)
Zsuzsa Bánk - Schlafen werden wir später
Der neue Roman der 1965 als Tochter ungarischer Eltern in Frankfurt am Main geborenen Autorin ("Die hellen Tage", "Heißester Sommer", "Der Schwimmer") verbindet Moderne und Romantik, Mails und Briefe. Zwei Freundinnen korrespondieren miteinander und teilen ihr Leid. (2017)
Terézia Mora - Die Liebe unter Aliens und Nicht sterben
Die in Ungarn geborene und auf Deutsch publizierende Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Verfasserin von Theaterstücken Terézia Mora wird am 23. Januar 2017 mit dem 63. Bremer Literaturpreis für ihren Erzählbandband "Die Liebe unter Aliens" ausgezeichnet. (2017)
Herta Müller - Mein Vaterland war ein Apfelkern
Eine dialogische Retrospektive auf das isolierte Leben der Literaturnobelpreisträgerin unter der Diktatur Ceaucescus zeichnet den Raum nach, in dem die Schriftstellerin ihre bilderreiche Gedankenwelt vor äußeren Drangsalierungsversuchen retten kann: Es ist ihr eigener Kopf. (2014)
Lola Lafon - Die kleine Kommunistin, die niemals lächelte
Ein kleines zerbrechliches Mädchen wird weltweit begeistert gefeiert, als es mit riskanten Turnübungen mehrere Goldmedaillen für das kommunistische Rumänien einsammelt. Mit ihrer fiktionalen Biografie über den Turnstar Nadia Comaneci aus diesem im Westen bis dahin kaum bekannten Land, geht die Autorin Lola Lafon der Frage nach, wie gesellschaftliche Räume den weiblichen Körper formen und welche Wege Frauen offen stehen. (2014)
Terézia Mora - Das Ungeheuer Die Hauptfigur von Terézia Moras neuem Roman ist den LeserInnen schon aus dem Werk "Der einzige Mann auf dem Kontinent" bekannt. Darius Kopp ist ein Einzelgänger, der neben seinem sinnlosen Job für eine Computerfirma nur seine Frau Flora zu seinem Lebensinhalt zählen kann, ansonsten lebt er seine Tage einfach ab. (2013)