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Beitrag vom 06.12.2022
Hanna Bervoets - Dieser Beitrag wurde entfernt. Roman
Helga Egetenmeier
Hasskommentare und menschenverachtende Beiträge aus dem Internet zu entfernen, ist ein anstrengender Job. Mit ihrer Hauptfigur Kayleigh zeigt Hanna Bervoets, dass schlechte Arbeitsbedingungen diese psychischen Belastungen weiter verstärken und Einfluss auf das Leben der Beschäftigten nehmen.
Anschaulich lässt die niederländische Autorin dazu ihre um Ehrlichkeit bemühte Ich-Erzählerin die Arbeitswelt von Content-Moderator*innen beschreiben, die in Subunternehmen beschäftigt sind.
Auch wenn ihr Roman ein Werk der Fiktion sei, schreibt die Autorin im Nachwort, sind "Übereinstimmungen mit der Wirklichkeit [...] jedoch alles andere als zufällig". Sie habe weltweit zu den Arbeitsbedingungen von Content-Moderator*innen recherchiert und empfiehlt anschließend ihre Quellen "allen, die sich für dieses Thema interessieren."
Ãœber das Leben einer Content-Moderatorin
Als Einstiegspunkt für die Berufs- und Lebensgeschichte ihrer Hauptfigur Kayleigh wählte die Autorin einen Anwalt als ihr Gegenüber. Dieser soll sie dafür gewinnen, gemeinsam mit ihren ehemaligen Kolleg*innenihren früheren Arbeitgeber zu verklagen. Sie weigert sich jedoch und berichtet ihm "von meiner Tätigkeit dort, den Richtlinien, den berüchtigten, erbärmlichen Arbeitsbedingungen, kurzum: von Dingen, die Sie zweifellos interessieren". Und ergänzt dies mit einem Satz, den die Autorin als Spannungsbogen bis zur letzten Seite durchhält: "Danach werden Sie mich wahrscheinlich nicht mal mehr vertreten wollen."
Doch sie sei kein willenloses Opfer gewesen, lässt Bervoets ihre Protagonistin erklären, da sie "wusste, worauf ich mich einließ". Mit ihrer danach einsetzenden Geschichte über die Abgründe von Kayleighs Job, zeigt Bervoets jedoch, dass diese ihr Selbstbewusstsein nicht davor schützte, unbeeinflusst durch ihre, mit Grausamkeiten und Lügen getränkte Arbeitswelt zu kommen. Die Autorin hält sich bei der Beschreibung dieser menschenfeindlichen Bilder jedoch angenehm zurück. Es ist dem Roman anzumerken, dass er keine Plattform zur Weiterverbreitung solcher Inhalte sein will. Nur gelegentlich flicht Bervoets kurze Beschreibungen ein, und verweist auf die "abscheulichen Fotos blutender Jugendlicher und nackter Kinder", wie auch auf "Videos von Messerstechereien oder Enthauptungen."
Lügen und Hass und die Trennung zwischen Job und Privat
Im Job müssen Kayleigh und ihre Kolleg*innen die täglichen Trefferquoten und die Kund*innenzufriedenheit erfüllen, egal, was auf dem Bildschirm zu sehen ist. Dazu wird die Länge ihrer Pinkelpausen kontrolliert und aufgrund der Verschwiegenheitsverpflichtung hat das Team um Kayleigh nur sich selbst, um über das Gesehene zu reden. Und so verbringen sie den Feierabend gemeinsam in einer Kneipe und ertränken ihre Erinnerungen in Alkohol.
Mit ihrer Frage: "Und was hast du da so alles gesehen?", eröffnet die Autorin ihren Roman mit einem der wichtigsten Punkte. Gekontert wird er gleich im zweiten Satz durch die Protagonistin, die sich beklagt, dass sie diese Frage "absurd oft" höre. Enttäuschend sei diese für sie, da darin kein Interesse erkennbar sei, wie es ihr damit gehe. Dieser Aspekt der Sorglosigkeit gegenüber der psychischen Gesundheit von Content-Moderator*innen, ob von der Firma, den Freund*innen, der Familie oder ihnen selbst, hat Bervoets in ihre Figuren zwischen Job und Privatleben nachvollziehbar eingewebt.
Das Sichten und Löschen von Verschwörungsgeschichten, sexualisierter Gewalt, rechtsnationaler Propaganda und Hasskommentaren manipulieren nach und nach Kayleighs Kolleg*innen. Bervoets zeigt dies durch die Liebesbeziehung von Kayleigh zu ihrer Kollegin Sigrid. Sie ist Teil ihres Freundeskreises aus Arbeitskolleg*innen, die sich zu Beginn des Romans noch gegenseitig stützen können: "Okay, unsere Arbeit war völliger Shit, aber wir ließen uns von ihr nicht unterkriegen, denn wir, Sigrid, die Jungs und ich, wir waren ein Team und halfen einander da durch." Doch im letzten Drittel der Geschichte bricht diese schützende Welt auseinander. Kayleigh bemerkt plötzlich Veränderungen in ihrem Freundeskreis und wundert sich, dass ihr diese nicht früher aufgefallen sind. Sie sind zu Anhänger*innen der sogenannten Flat-Earth-Theorie geworden und verbreiten Antisemitismus und Homophobie. Entsetzt von dieser Entwicklung, versucht sie dagegen zu argumentieren. Doch sie dringt nicht zu ihnen durch. Und auch Sigrid steht nicht mehr an ihrer Seite, sondern trennt sich von ihr und wirft ihr Stalking vor.
Wichtig wären: Gute Arbeitsbedingungen
Hanna Bervoets, aber auch Autorinnen wie Kathrin Klingner ("Über Spanien lacht die Sonne") und Politikerinnen wie Renate Künast (Hass ist keine Meinung. Nicht mal im Internet) machen deutlich, dass es Menschen braucht, die in diesen Jobs arbeiten. Auch der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bbf) setzt sich aktiv gegen digitale Gewalt ein, wie sie mit dem Aufruf #NetzOhneGewalt zeigen. Deshalb wäre es nur folgerichtig, für die Beschäftigten, die im Content-Bereich psychischen Belastungen ausgesetzt sind, einen Arbeitsplatz zu fordern, der der unternehmerischen Sorgfaltspflicht nachkommt und Verantwortung für die Gesundheit ihrer Beschäftigten übernimmt - auch wenn diese Jobs an Subunternehmen ausgelagert werden.
AVIVA-Tipp: Hanna Bervoets gelingt es, ihren Leser*innen ein hochaktuelles, vielschichtiges Thema mit präzisen Aussagen und literarischer Leichtigkeit zu vermitteln. Auch denen, die sich nicht persönlich oder beruflich mit Hass und Fake im Netz auseinandersetzen, wird dieser überaus empfehlenswerte Roman zeigen, dass durch Menschenfeindlichkeit geprägte Falschinformationen ein immanenter Bestandteil unserer heutigen Gesellschaft ist, der nicht ignoriert werden darf.
Zur Autorin: Hanna Bervoets, geboren 1984, ist eine der meistgelesenen niederländischen Autorinnen. Sie veröffentlicht Romane, Drehbücher, Theaterstücke und Kurzgeschichten. Für ihren ersten Roman "If How Why" gewann sie 2009 den Debutant of the Year Award, für "Dear Céline" 2012 den Opzij Literature Prize für das beste Buch einer weiblichen, holländischen Autorin. Vielfach für ihre Romane ausgezeichnet, erhielt sie 2017 den renommierten Frans-Kellendonk-Preis für ihr Gesamtwerk. 2018 war sie Resident im Ledig House, New York, wo sie an ihrem Roman "Welcome to the Kingdom of the Sick" arbeitete, der 2019 veröffentlicht wurde. Zwischen 2009 und 2014 arbeitete sie auch als Kolumnistin für "De Volkskrant", aktuell veröffentlicht sie dort Kritiken und Essays zu (digitalen) Medien und (queerer) Repräsentation. 2021 erschien, neben "Dieser Beitrag wurde entfernt", eine Sammlung von Kurzgeschichten unter dem Titel "A modern Desire", mit denen sie den J.M.A. Biesheuvel Award für Kurzgeschichten 2022 gewann. Sie machte einen Bachelor in Cultural Studies, wie einen Master in Journalism & Research und lebt mit ihrer Partnerin in Amsterdam.
Webseite der Autorin www.hannabervoets.com
Biographie der Autorin "De Lesbische Liga Podcast" - ein Gespräch auf Niederländisch mit Hanna Bervoets am 19.03.2022.
Hanna Bervoets
Dieser Beitrag wurde entfernt
Originaltitel: Wat wij zagen
Ãœbersetzer: Rainer Kersten
Hanser Verlag: August 2022
Hardcover, gebunden, 110 Seiten
ISBN-13: 978-3-446-27379-5
20,00 Euro
Mehr zum Buch: www.hanser-literaturverlage.de
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Hass ist keine Meinung. Nicht mal im Internet
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#NichtEgal - Initiative gegen Hass im Netz
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Weitere Infos unter: = Webadressen und Links
www.frauen-gegen-gewalt.de
Der Bundesverband der Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe in Deutschland (bff) wendet sich gegen digitale Gewalt und hat den Aufruf #NetzOhneGewalt online gestellt.
www.no-hate-speech.de
Im Nationalen Komitee des NHSMs (No Hate Speech Movement - 2013 von Jugendorganisationen des Europarates gegründet) sind rund fünfzig Akteur*innen aus Deutschland vertreten, die auf dieser Webseite kurz vorgestellt werden, dazu weitere Unterstützer*innen.
www.inach.net
International Network Against Cyber Hate, wurde 2002 gegründet und hat 32 Mitglieder aus 28 Ländern.
www.institut-fuer-menschenrechte.de
Das Deutsche Institut für Menschenrechte setzt sich unter dem Thema "Wirtschaft und Menschenrechte" damit auseinander, dass deutsche Unternehmen ihre menschenrechtliche Sorgfaltspflicht umsetzen müssen.
www.lautgegennazis.de
Der Verein "Laut gegen Nazis e.V." unterstützt Initiativen und Bündnisse gegen Rechts bei der Öffentlichkeitsarbeit. In ihrem aktuellen Artikel setzen sie sich auf ihrer Webseite mit Algorithmen und rechten Bands auf Streaming-Plattformen auseinander.
www.hass-im-netz.info
Über die Webseite "Hass im Netz" können über das Beschwerdeformular unzulässige Angebote im Internet gemeldet werden. Dazu gibt es Publikationen zur Information zum download.
www.support.google.com
Auf dieser Webseite können unangemessene Videos, Kanäle und andere Inhalte auf YouTube anonym gemeldet werden. Wenn diese Inhalte gegen die Community-Richtlinien verstoßen, werden sie von YouTube entfernt, so die Webseite.
www.tu-berlin.de
Wissenschaftliches Gutachten (2019) der TU Berlin und der Justus-Liebig-Uniersität Giessen zu "Antisemitismus in der Schule". Durch seine systematische Erfassung zeigt das Gutachten auf, welche Erkenntnisse umgesetzt werden müssten, um etwas am Antisemitismus in der Schule zu ändern.
www.amadeu-antonio-stiftung.de
Die Amadeu-Antonio-Stiftung befasst sich auf dieser Webseite mit "Hate Speech und Debattenkultur" und verweist auf "Projekte für eine digitale Zivilgesellschaft", wie Belltower.News, Good Gaming - Well Played Democracy, de:hate, Firewall - Hass im Netz begegnen, re:set - Jugend gegen Hass im Netz, und mehr.