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Beitrag vom 21.03.2023
Eva Lezzi - L´chaim, Merle!
Hadassah Stichnothe
Berlin ist nicht wie andere Städte. Das gilt auch oder ganz besonders für das jüdische Berlin. Diesem einzigartigen Mikrokosmos widmet sich nun eine kleine Broschüre der Berliner Landeszentrale für politische Bildung.
Für L´chaim, Merle! wurde mit Eva Lezzi eine Autorin gewonnen, die nicht nur das Berliner jüdische Kulturleben aus eigener Erfahrung gut kennt, sondern auch bereits einen Namen in dem kleinen Gebiet jüdischer Kinder- und Jugendliteratur erworben hat. Hier arbeitete Lezzi mit dem Illustrator Florian Schmeling zusammen, der u.a. durch seine Tätigkeit in der Medienabteilung des Jüdischen Museums Berlin mit der Materie vertraut ist.
Die Handlung setzt mit einer Zufallsbekanntschaft ein: Die junge Tattookünstlerin Merle sieht in einem Club einen jungen Typen, nur um ihn sogleich wieder aus den Augen zu verlieren. Der junge Mann geht ihr nicht mehr aus dem Kopf, doch wie findet man in einer Stadt wie Berlin einen Menschen, von dem man noch nicht mal den Namen weiß? Einziger Anhaltspunkt ist dessen Kette mit einem Chai-Anhänger, der Merle – selbst nicht jüdisch, aber durch ihren jüdischen Urgroßvater und die Auseinandersetzung mit ihrer Familiengeschichte dem Judentum eng verbunden – sofort aufgefallen ist. Und so entwickelt sie einen Plan, für dessen Umsetzung es nicht nur Merles kreativer Ader bedarf, sondern auch jeder Menge Zufälle und narrativer Querverbindungen, die die Lesenden auf einen Streifzug durch unterschiedliche Orte und Formen jüdischen Lebens in Berlin mitnehmen.
Da ist etwa der Rentner Leo, der als Kind den Nationalsozialismus im Versteck überlebte und in der DDR als Dachdecker arbeitete. Nach dem Tod seiner Frau erträgt er die Einsamkeit in seiner Wohnung nicht mehr und ist froh, wenn er bei seinen Spaziergängen um den Ernst-Thälmann-Park seinen alten Arbeitskollegen Peter trifft. Als dieser ihm aber ausgerechnet einen Flyer von einem Tattooladen zeigt, ist Leo gar nicht begeistert, denn Tätowierungen wecken nur schlechte Erinnerungen in ihm. Doch dieser Flyer hat etwas Besonderes.
Die elfjährige Natalia hingegen musste mit ihrer Mutter und ihrer älteren Schwester aus der Ukraine flüchten und versucht nun, sich in der noch fremden Stadt zurechtzufinden. Zudem steht ihre Bat Mitzwa an, auf die sie sich gemeinsam mit den Jugendlichen aus der Synagoge Oranienburger Straße vorbereitet, dort, wo auch zufällig Yoram arbeitet, ein junger Israeli mit einem Chai-Anhänger …
Verbunden werden die kurzen Episoden durch die Figur einer schwarzen Katze, die als charmante und vom Illustrator Florian Schmeling schön umgesetzte Hommage an Joann Sfars legendäre Katze des Rabbiners die Leser*innen nicht nur von Schauplatz zu Schauplatz führt, sondern auch manchmal rettend in die Handlung eingreift. So verweist der Text ganz nebenbei auf die vielfältige Tradition jüdischer Jugendliteratur, die auch im Anhang durch eine kurze, aber gelungene Literaturliste aufgegriffen wird.
Eine Schwäche des Anhangs ist hingegen das Glossar, dessen sehr knappe Definitionen den komplexen Unterschieden der unterschiedlichen jüdischen Strömungen und auch, etwa in einem höchst problematisch verkürzenden Eintrag zu Palästina, den Schwierigkeiten des Nahostkonfliktes nicht gerecht wird. Dadurch sind die Einträge gerade als eine erste Informationsquelle für Kinder und Jugendliche bedauerlicherweise nicht geeignet.
Die Erzählung selbst hingegen funktioniert gut als niedrigschwelliger Einstieg in das jüdische Berlin und beim Blick in die kurzen, liebevoll ausgearbeiteten Figurenbiografien am Ende hätte man sich diese auch in einem längeren Text vorstellen können.
Das jüdische Leben in Berlin würde in seiner Vielgestaltigkeit problemlos Stoff für mehrere Romane bieten. Für ihren knapp 50 Seiten umfassende Erzählung musste die Autorin also eine Auswahl treffen und notwendigerweise vieles weglassen. Trotz dieser Platzbegrenzung gelingt es ihr, ein abwechslungsreiches Bild zu zeichnen, das auch Aspekte jüdischen Lebens aufgreift, die einem nicht jüdischen Publikum wohl eher unbekannt sein dürften. Der Fokus der Erzählung liegt hier auf jenen Teilen jüdischen Lebens, die sich mit dem Image von Berlin als einer diversen und vielfältigen Stadt besonders augenfällig in Einklang bringen lassen. Und so ist es eher die liberale bis säkulare Perspektive, der am meisten Raum eingeräumt wird, was sicherlich auch der Lebenswirklichkeit der Mehrzahl der in Berlin und in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden entspricht.
Als Publikation der Landeszentrale für politische Bildung richtet sich das Heft an ein breites und in der Mehrheit nichtjüdisches Publikum. Dennoch stellt sich aus jüdischer Leserinnenperspektive die Frage, warum es für eine Einführung in das jüdische Leben Berlins ausgerechnet einer nichtjüdischen Titelfigur bedarf, die offenbar den Zugang zum unbekannten Anderen erleichtern soll. Braucht es wirklich diese Versicherung, dass auch Jüdinnen und Juden feiern gehen, sich ein Tattoo stechen lassen und eben doch gar nicht so beunruhigend anders und religiös sind? Hier hätte man dem Text mehr Mut gewünscht, sich ohne die (nur zu oft berechtigte) Angst, in die Klischeefalle zu tappen, auch dem religiösen Judentum intensiver und differenzierter zu widmen. So wäre es beispielsweise interessant gewesen, über den kleinen sephardischen Jungen Simon mehr zu erfahren, als dass er Tiere mag und seine Familie am Schabbat immer zu Fuß geht.
Doch ist eine kurze Erzählung eben kein Großstadtroman und tatsächlich zeigt L´chaim, Merle! ein breites Panorama jüdischen Lebens und jüdischer Identitäten in Berlin.
AVIVA-Tipp: L´chaim, Merle! ist ein kurzweiliger Einstieg in das jüdische Berlin, der von der guten Ortskenntnis von Autorin und Illustrator lebt. Trotz weniger Schwächen gelingt es dem kurzen Text, den Blick für die Vielschichtigkeit von Judentum und jüdischen Identitäten am Beispiel unterschiedlichster Figuren und deren Geschichten zu öffnen.
Zur Autorin: Eva Lezzi, geboren 1963 in New York, aufgewachsen in Zürich, hat von 1984 bis 1993 Germanistik, Vergleichende Literaturwissenschaft und Psychologie an der Freien Universität Berlin studiert und mit einer Studie zur Literatur von jüdischen Überlebenden promoviert ("Zerstörte Kindheit. Literarische Autobiographien zur Shoah", Köln u.a. 2001). An der Universität Potsdam wurde sie 2011 mit der Schrift "Liebe ist meine Religion! Eros und Ehe zwischen Juden und Christen in der Literatur des 19. Jahrhunderts" (Göttingen 2013) habilitiert. Seit 2010 publiziert Eva Lezzi auch Kinder- und Jugendbücher, insbesondere zu jüdischen und transkulturellen Themen, darunter die Bilderbuchreihe um den in Berlin lebenden jüdischen Jungen Beni und seine Familie, die sie mit der Künstlerin Anna Adam realisiert, die auch das gemeinsame Naturbuch "Lilly und Willy" (2022) mit Collagen ausgestattet hat und schreibt mittlerweile zudem Drehbücher für Kinderfilme.
Ihre Kindergeschichte "L´chaim, Merle!" zum vielfältigen jüdischen Leben in Berlin ist im Dezember 2022 bei der Berliner Landeszentrale für Politische Bildung erschienen.
Mehr Infos zu Eva Lezzi im Interview mit Sharon Adler (AVIVA-Berlin, Stiftung Zurückgeben) in der Reihe "Jüdinnen nach 1945. Erinnerungen, Brüche, Perspektiven" im Deutschland Archiv online der bpb (13.10.2022)
Mehr zum Buch "L´chaim, Merle!" von Eva Lezzi und als Gratis-Download über die Landeszentrale für Politische Bildung unter: www.berlin.de/politische-bildung
Zur Rezensentin: Hadassah Stichnothe ist Literaturwissenschaftlerin (Komparatistik, Amerikanistik) mit dem Schwerpunkt Kinder- und Jugendliteratur. Derzeit arbeitet sie an der Universität Bremen an einem Postdoc-Projekt zur deutsch-jüdischen Kinder- und Jugendliteratur nach 1945. Darüber hinaus ist sie im Redaktionsteam der Plattform KinderundJugendmedien.de für die Kinder- und Jugendbuchrezensionen mitverantwortlich.