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Beitrag vom 28.07.2023
Gästebuch des jüdischen Bankiers Oscar Wassermann. Vorstandssprecher der Deutschen Bank 1923-1933
Nikoline Hansen
Die Geschichte der Entdeckung dieses Gästebuchs liest sich wie ein Krimi: Auf einer Auktion war es aufgetaucht, angeboten von einem Besitzer aus Venezuela, dessen Identität das Auktionshaus geheim hielt. Eine Berliner Sammlerin entdeckte es zufällig.
Die Verlegerin Nea Weissberg erkannte den außerordentlichen historischen Wert des Gästebuchs, über dessen Herkunft zu diesem Zeitpunkt noch nichts bekannt war, und beauftragte den Historiker Sebastian Panwitz, die Herkunft zu untersuchen und die vielen Unterschriften, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatten, zu identifizieren. So konnte das Gästebuch dem jüdischen Bankier Oscar Wassermann, Vorstandsprecher der Deutschen Bank, zugeordnet werden. Nea Weissberg ist es zu verdanken, dass die Namen aus diesem Buch einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden. Die Kurzbiographien und die Reproduktion einzelner Seiten sowie zahlreiche Porträts geben einen umfassenden Eindruck vom gesellschaftlichen Leben in Berlin während der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Zu der Freude über die Entdeckung dieses Kleinods gesellt sich die Trauer darüber, was in Deutschland verloren ging. Von den jüdischen Gästen, die das zwölfjährige Unrechtsregime überlebten, sind die meisten emigriert und nicht zurückgekommen.
Die Familie Wassermann während der NS-Herrschaft
Die einleitenden biographischen Vorbemerkungen verfasste der Historiker Sebastian Panwitz, der sowohl die Familie Oscar Wassermanns als auch sein Schicksal im "Dritten Reich" skizzenartig darlegt und damit die Grundlage für das Verständnis der Bedeutung dieses Gästebuchs schafft. Weil er Jude war, wurde Wassermann trotz seiner überaus erfolgreichen Tätigkeit als Vorstandssprecher der Deutschen Bank entlassen und musste am 31. Dezember 1933 in den Ruhestand gehen. In seinem Abschiedsschreiben vom 1. Dezember bemerkte er: "Mir war es nicht vergönnt, durch die Wirren der Vergangenheit und die Schwierigkeiten der Gegenwart hindurch die Bank zur alten Kraft und Größe zurückzuführen" – eine bescheidene Aussage, die sein Wirken nicht ausreichend wiedergibt. Nach seiner Entlassung verschlechterte sich sein Gesundheitszustand zusehends. Während eines Kuraufenthalts in Garmisch in Bayern verstarb Oscar Wassermann am 8. September 1934. Er wurde am 12. September auf dem Jüdischen Friedhof Berlin-Weißensee beigesetzt, die Trauerrede hielt Leo Baeck.
Das Gästebuch – ein Spiegel der Berliner Gesellschaft
Das Gästebuch spiegelt eine bessere Zeit. Im Buch werden die Gäste, die sich hier mit ihrer Unterschrift eingetragen haben, mit Kurzbiografien alphabetisch aufgeführt. Darüber hinaus sind etwa 120 Fotos abgedruckt, so dass sich die Leserinnen und Leser einen guten Eindruck von den Besucherinnen und Besuchern machen kann, die Wassermann in seiner Villa in der Tiergartenstraße empfing. Unter den ausgewählten Gästen befinden sich etwa Natalie Gräfin von Einsiedel, Witwe des Legationsrats im Auswärtigen Amt Curt Graf von Einsiedel, der Kunstsammler Eduard Freiherr von der Heydt, der Kunstmaler und Bühnenbildner Ludwig Kainer und seine Ehefrau Margret, der General und Botschafter der Republik Türkei Kemaleddin Sami Pascha, die Kunstsammlerin Margarethe Oppenheim, der bulgarische Gesandte Methodi Popoff, die Kriegsberichterstatterin Therese "Thea" von Puttkammer, der britische Botschafter Sir Horace Rumbold, Arthur Ruppin, Leiter der Jewish Agency for Palestine und die Opernsängerin Malfalda Savatini, Reichswirtschaftsminister Hjalmar Schacht, Moritz Sobernheim, Leiter des Referats für jüdische Angelegenheiten im Auswärtigen Amt und Präsident der Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaft des Judentums, Karl H. Ullstein und der Schriftsteller Jakob Wassermann mit seiner Ehefrau Marta. Der Physiker Albert Einstein war mit seiner Frau Elsa zu Besuch, die Vorsitzende der "Arbeitergärten vom Roten Kreuz" Baronin Helene von Carnap, der Archäologe Theodor Wiegand, Ehemann von Marie geborene von Siemens, ebenso wie die Hochstaplerin Eugenie Prinzessin Paléologue, die Ansprüche auf den griechischen Thron erhob oder die Sinologin Victoria Contag, später verheiratete von Winterfeldt: Eine vielfältige Gesellschaft mit unterschiedlichsten Interessensgebieten. Dokumentiert sind ebenfalls ausgewählte Seiten mit den originalen Unterschriften des umfangreichen Gästebuches, dessen letzte Seiten leer bleiben mussten.
Die Frauen im Gästebuch
Es ist bemerkenswert, dass in dieser Gesellschaft auch berühmte Frauen vertreten waren, die nicht nur Anhängsel ihrer Ehemänner waren. Eine dieser Frauen ist Katharina von Kardorff-Oheimb, geborene Endert, Tochter eines Seidenfabrikanten. Sie war eine der bekanntesten Politikerinnen der Weimarer Republik und gehörte von 1920-1924 als Vertreterin der DDP dem Reichstag an. Der Schwerpunkt ihres Engagements war das Frauen- und Familienrecht. Sie selbst war insgesamt viermal verheiratet und hatte nach ihrer ersten Scheidung 1906 das Sorgerecht für ihre vier Kinder verloren. In dieser Zeit wurde sie als Ehebrecherin stigmatisiert und musste diskriminierende Erfahrungen machen, sicher eine Motivation für ihr Engagement. Sie bekam zwei weitere Kinder mit ihrem zweiten Ehemann Ernst Albert, der 1911 bei einem Bergunfall ums Leben kam, sie und die Kinder aber finanziell abgesichert hatte, so dass sie 1912 als Rentier nach Berlin ziehen konnte.
Nach ihrer Zeit als Abgeordnete betätigte sie sich weiter publizistisch und verfasste den Aufsatz "Die Frau im modernen Staat", der im Band "Zehn Jahre deutsche Geschichte 1918-1928" veröffentlicht wurde. 1929 veröffentlichte sie zusammen mit der Psychologin Ada Schmidt-Beil das Buch "Gardinen-Predigten", in dem es um die politische und soziale Stellung der Frau ging. Sie bemühte sich mit vielen Aktivitäten, den Zerfall des Parlamentarismus und den Aufstieg der Nationalsozialisten zu verhindern. Unter anderem betätigte sie sich an der Berliner Lessing-Hochschule, die unter der Leitung von Ludwig Lewin 1914-1933 zu einem geistigen Mittelpunkt im Bereich der Erwachsenenbildung wurde. Hier war sie 1922 an Stelle des ermordeten Reichsaußenministers Walter Rathenau in das Ehrenpräsidium der Hochschule aufgenommen worden und leitete später die neu eingerichtete Abteilung "Hochschule der Frau".
Eine weitere schillernde und sehr zielstrebige Persönlichkeit, die öfter bei Wassermann zu Gast war, ist die Komponistin Louise Wolff, die als Aloisa Schwarz 1855 in Brünn geboren wurde und sich nach dem Tod ihres Ehemannes Hermann Wolff 1902 als Agentin der von ihm gegründeten Konzertagentur einen Namen machte. Ihr Spitzname war in Anspielung an die beliebte preußische Königin "Königin Louise". Unter anderem organisierte sie das triumphale Debut von Yehudi Menuhin am 29. April 1929 in Berlin kurz vor seinem 13. Geburtstag. Nach der Machtübernahme Hitlers war klar, dass ihr Unternehmen aufgrund der jüdischen Abstammung keine Zukunft in Deutschland hatte. Ende 1934 beschloss sie, die Konzertagentur aufzulösen und gab die Entscheidung im April 1935 bekannt. Wenige Wochen später starb sie. Ihre beiden Töchter wurden von den Nationalsozialisten verfolgt und das Vermögen beschlagnahmt. Tochter Edith überlebte Theresienstadt und veröffentlichte 1954 das Buch "Wegbereiter großer Musiker" über die Konzertagentur mit persönlichen Erinnerungen an ihre Eltern.
AVIVA-Tipp: Ein wertvolles und beeindruckendes Zeugnis einer blühenden Zeit, in der Juden und Jüdinnen einen wichtigen Beitrag zum kulturellen, politischen und wirtschaftlichen Leben der Stadt Berlin leisteten, die durch die Nationalsozialisten jäh beendet wurde. Das Buch lädt ein zum Stöbern in den Kurzbiographien und regt dazu an, weiter zu recherchieren und sich so ein eigenes Bild von dem gesellschaftlichen Leben in der Weimarer Republik zu machen.
Gästebuch des jüdischen Bankiers Oscar Wassermann. Vorstandssprecher der Deutschen Bank 1923-1933
Lichtig Verlag, erschienen Februar 2023
144 Seiten, Klappenbroschur
ISBN (Print) 978-3-929905-45-8
Preis (Print) € 30,-
Mehr zum Buch unter: www.lichtig-verlag.de
Zur Rezensentin: Dr. Nikoline Hansen studierte Literaturwissenschaft, Politologie und Ur- und Frühgeschichte an der FU Berlin und hat als Koordinatorin einer naturwissenschaftlichen Einrichtung gearbeitet. Bis zu dessen Auflösung 2016 war sie Redakteurin und Autorin der vom Bund der Verfolgten des Naziregimes herausgegebenen Zeitschrift "Die Mahnung".