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Beitrag vom 19.11.2008
Gabriela Avigur-Rotem - Loja
Margret Müller
Nach vielen Jahren kehrt Loja gezwungenermaßen in ihre Heimat Israel zurück, um das Erbe anzutreten. Dies bedeutet aber mehr als ein Haus, sondern vor allem die Spur zum Geheimnis ihrer Familie.
Loja merkt sich Telefonnummern, indem sie diese in Jahreszahlen geschichtlicher Ereignisse einteilt, mit denen sie auch sonst zu jeder Gelegenheit jongliert, gepaart mit einer unerschöpflichen Zahl lateinischer Aussprüche für jede Gelegenheit. In alter Geschichte kennt sie sich als Historikertochter aus. Von der ihrer Familie hat sie dafür weniger Ahnung.
Lange ist Loja vor ihrem Leben weggerannt. Oder besser gesagt: weggeflogen. Anfang zwanzig, kurz nach dem Tod ihres Vaters, bricht sie alle Kontakte ab und betritt in ihrem Heimatland Israel nur noch das Hotelzimmer, welches sie als Stewardess bekommt. 25 Jahre später stirbt Davidi, der enge Freund und Kollege ihres Vaters. Durch sein Erbe ist sie gezwungen, in die Siedlung ihrer Kindheit zurückzukehren. Doch Davidi, eine der wichtigsten Personen ihrer Vergangenheit, hat ihr mehr als ein Haus am Orangenhain und die Pyxis mit seiner Asche überlassen. Er zeigt ihr die Spur zu der Geschichte ihrer Familie, der Verstrickung zwischen Davidi und ihrem Vater, die beide Forscher erfolgreich verborgen hielten. Die Suche führt Loja bis nach Terezin, dem ehemaligen Ghetto Theresienstadt, zu ihrer totgeglaubten Mutter.
"Das Ende eines Fadens hast du für mich aufgehoben, aber nicht, damit ich den Weg hinausfinde, sondern damit ich in ein dunkles Labyrinth hineingehe, aus dem ich wer weiß wie wieder rauskommen werde.", so Loja in ihren treffenden Gedanken an Davidi.
Erinnerung ist etwas eigenartiges, sie kann einem tatsächlichen Geschehen entsprechen, ist jedoch oft eingefärbt durch subjektive Empfindungen und seitdem erworbenes (Selbst-)wissen. Sie ist wandelbar. Loja scheint sich dessen bewusst zu sein und mit ihr Zeit zu lassen.
So lange flog sie vor ihrem früheren Leben davon, wurde es aber dennoch nicht los. Nun, auf dem Weg zurück, zu sich, ihrer kleinen Familie, ihrer Kindheit, Schulzeit und Jugend kommen diese nicht chronologisch zurück zu ihr. Unbestimmt hüpfen Erinnerung und Gegenwart hin und her, greifen ineinander, verweben sich.
So nähert Loja sich denen, derer sie sich gerade entsinnt, immer wieder durch imaginäre, an sie gerichtete Monologe an, erzählt.
Von der Anwesenheit der unwissenden LeserInnen lässt sich dabei nicht beirren, oder dazu verleiten, geordnete Hintergrundinformationen zu liefern. So stolpert man anfangs etwas unbeholfen neben ihr her, von Paris zum Orangenhain und zurück, immer wieder im Flugzeug, fasziniert von der literarischen Kraft ihrer Beschreibungen und Beobachtungen, aber manchmal nicht ganz verstehend, was passiert. Langsam wird Lojas Gangart vertraut, die Reise in die verworrene Vergangenheit des Kindes erster Generation in Israel, verwoben mit der Neuentdeckung in den 1990er Jahren lässt dann nicht mehr los. Intelligent und hintergründig begegnet Loja den Menschen, den Vögeln und der Umgebung, die ihr einst vertraut waren, der "Heimat" - sich selber.
Zuweilen scheint der Wissensdrang und die Neugierde beim Lesen stärker zu sein als bei Loja, die sich mit dem Öffnen der Türen ihrer Erinnerung Zeit lässt.
Sich dabei der Gefahr zu ergeben, die Seiten entlang zu peitschen, um den Druck der unsäglich werdenden Spannung, die Wissbe-Gier zu stillen, wäre sträflich. Zu viel der sprachlichen Eleganz der Gedanken und der Finesse des Aufbaus würde am Wegesrand des Buches vorüberrauschen. Nicht umsonst wurde dieses Werk Gabriela Avigur-Rotems in Israel ein Bestseller, von KritikerInnen gerühmt und vielfach ausgezeichnet.
Loja ist nicht nur die Geschichte einer Frau, die sich selbst und ihre Familie wieder entdeckt. Es ist auch die der jungen israelischen Gesellschaft der 1950er, die sich viel lieber mit der biblischen Vergangenheit des eigenen Volkes auseinandersetzt, als mit dem so nahe liegendem Holocaust, und der Eltern, die ihren Kindern - der zweiten Generation - verschweigen, wie sie nach Israel kamen und was sie vorher (üb)erlebt haben. Und es ist die Geschichte des erwachsen werdenden Israels, das etwa fünfzig Jahre nach dem Holocaust langsam und qualvoll beginnt, die Zeitgeschichte zu erwecken, und der Überlebenden zweiter Generation, die die erste - die eigenen Eltern - noch einmal schmerzlich neu kennen lernt.
Zur Autorin: Gabriela Avigur-Rotem wurde 1946 in Buenos Aires, Argentinien, geboren und kam vier Jahre später nach Israel. Sie studierte Englische und Hebräische Literatur, wobei sie letzteres an Oberschulen lehrte. Zudem gab sie Schreibkurse an den Universitäten Haifa und Ben Gurion. Mittlerweile arbeitet sie als Editorin am Haifa University Publishing House. Ihren ersten Gedichtband veröffentlichte sie 1980, einen ersten Roman im Jahr 1992. Avigur-Rotems Werke wurden mit zahlreichen Preisen geehrt, unter anderem: dem Peter Schweisert Preis für Junge Schreiber, den Rabinowitz Preis für Poesie (1990), dem Premierministerpreis (1992 und 2001) dem Keshet Veröffentlicher-Preis in Gold und Platinum, dem Goldberg Preis und dem WIZO Preis (Frankreich 2006). "Loja" wurde im Jahr 2001 mit dem Präsidentenpreis ausgezeichnet und ist ihr erstes Werk, das auf Deutsch übersetzt wurde.
AVIVA-Tipp: "Loja" liest sich schlecht nebenbei, mit halber Konzentration oder mal eben auf die Schnelle. Es benötigt Konzentration, die sich lohnt. Dann entfaltet sich die Schönheit und Bedachtheit, die Genialität und der Schmerz des Buches, der nicht mehr loslassen will, zu durchlesenen Nächten führt und auch im Nachhinein noch eine Weile begleitet. Von der israelischen Tageszeitung Haaretz als "der beste israelische Roman seit Jahrzehnten" bezeichnet, wirkt der Verlauf der Erzählung so unwirklich real, der Charakter der Protagonistin "Loja" so plastisch, als sei es eine Autobiographie, die unmöglich so erdacht worden sein könne.
Gabriela Avigur-Rotem
Loja
Suhrkamp Verlag, erschienen Oktober 2008
Gebunden, 551 Seiten
ISBN: 978-3518420126
24,80 Euro