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Beitrag vom 04.05.2009
Susanne Alge - Premiere für Han Li
Claire Horst
Roswitha fühlt sich in ihrem beengenden und spießigen Elternhaus, als käme sie von einem anderen Planeten. Schon als Kind ekelt sie sich vor dem Gedanken, einmal im Bauch ihrer Mutter gesteckt zu...
... haben, die für sie den Inbegriff verklemmter Selbstgerechtigkeit darstellt.
Auch ihre Schwester hasst sie abgrundtief: "Ich ging ins Zimmer, das ich mit dem heulenden Monster teilte und schrieb drei Seiten in meinem Tagebuch mit dem Wort ´Schweine´ voll. Anschließend zwickte ich die verdammte Heulsuse so fest in den Oberarm, dass sie aufschrie." Roswithas Wut konzentriert sich jedoch hauptsächlich auf ihre Mutter, denn "man musste sie nicht hassen, um allein aus ihrem Äußeren die richtigen Schlüsse zu ziehen." Bei der Scheidung der Eltern sagt sie trotzdem gegen den Vater und für die Mutter aus.
In diesem Zwiespalt verbringt Rosi ihre gesamte Jugend. Zwar bedeutet das Leben mit der Mutter für sie einen ständigen Widerstreit mit den eigenen Bedürfnissen. Statt Abitur zu machen, muss sie auf die Hauptschule gehen und eine verabscheute Bürolehre absolvieren. FreundInnen bringt sie nicht mit nach Hause, weil sie sich für ihren beengten und ungebildeten Hintergrund schämt. Und doch fällt es ihr schwer, sich aus der Verstrickung mit der Mutter zu lösen. Denn Chancen dazu bieten sich ihr immer wieder.
In der Familie ihrer Freundin Jette lernt Roswitha zum ersten Mal so etwas wie Lebensfreude kennen: Jettes Mutter ist Sängerin, lässt sich duzen, nimmt die Mädchen auf Demonstrationen mit und schimpft auf den Vietnamkrieg. Im Gegensatz zu Roswitha darf Jette auf das Gymnasium. In der Auseinandersetzung mit den Freiheiten, die die Welt der Freundin ausmacht, durchlebt Roswitha eine merkwürdige Verwandlung. Stand am Anfang des Romans ein erfrischend widerspenstiges Kind, das sich gegen die ungerechte Behandlung in der Familie auflehnte und die spießigen Moralvorstellungen der Mutter verteufelte, wird sie nun ihrer Mutter immer ähnlicher.
Obwohl sie durch ihre Freundin Antonia sogar einen Job bekommt, der darin besteht, in einer Anwaltskanzlei herumzusitzen und ein Theaterstück zu schreiben, tut sie sich unendlich leid. Antonia wirft ihr vor, "dass ich in ihr immer ein schlechtes Gewissen hinterließ und das Gefühl, mir ihre Zuneigung zu wenig zu zeigen. Dabei verstricke ich mich nur in meiner eigenen Geschichte, ohne den anderen zu sehen und mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was um mich herum wirklich vorgehe. Das sei genau der Egoismus, den ich meiner Mutter vorwerfe, und deswegen sei sie der einzige Mensch, mit dem ich ganz und gar zurechtkomme."
"Premiere für Han Li" ist einerseits ein Roman über die Macht familiärer Muster und über den Hunger nach intellektueller Freiheit, über das Erwachsenwerden in der erstickenden Enge der Sechzigerjahre. Andererseits, und darauf bezieht sich der zunächst rätselhafte Titel, handelt er von dem Bedürfnis, etwas zu verändern, vom Widerstand gegen Ungerechtigkeiten. Den Namen Han Li haben Roswitha und Jette sich für das kleine vietnamesische Mädchen ausgedacht, deren Foto um die Welt ging: Schreiend und brennend rennt sie über die Straße und wird zum Symbol für die Unmenschlichkeit des Krieges.
Susanne Alge stellt ihrem Buch eine Widmung an die FotografInnen voran, "die uns die Augen für die Schrecken und Opfer der Kriege öffnen." Das Bedürfnis, die Menschen auf das Leid Han Lis aufmerksam zu machen und die Öffentlichkeit aufzurütteln, macht Rosi zur Autorin. Für die fiktive Han Li schreibt sie ein Theaterstück, mit dem sie sich zugleich ihren Platz in der Welt erschreibt. Vor diesem Platz schreckt sie allerdings immer wieder zurück und stößt damit ihre FreundInnen vor den Kopf.
AVIVA-Tipp: Susanne Alge, die bereits mehrere renommierte Literaturpreise erhalten hat, zeichnet sich durch einen humorvollen und scharfzüngigen Schreibstil aus. Ihre Roswitha beobachtet die Fehler der Anderen und die eigenen sehr genau – an ihrem Beispiel entwirft Alge ein kritisches Portrait der Bundesrepublik der Sechzigerjahre. Trotz bissigem Humor hinterlässt der Roman vor allem Nachdenklichkeit. Ein allzu seichtes Happy End gönnt Alge ihrer Protagonistin nicht - am Schluss steht der Satz "Das [die Erfüllung ihrer privaten Träume] hatte ich nicht geschafft, aber das Versprechen, etwas für Han Li zu tun, wenn ich stark genug wäre, hatte ich gehalten."
Zur Autorin: Susanne Alge, geboren 1958, Studium der Germanistik und Romanistik an der Universität Salzburg. Seit 1992 freischaffende Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin, lebt in Berlin. Stipendium des Literarischen Colloquiums Berlin (1990), Theodor-Körner-Förderungspreis (1991), Stipendiatin auf Schloss Wiepersdorf (2002). Zahlreiche Veröffentlichungen, unter anderem: Die Brupbacherin (1995), Großmutter und Lebensweisheiten und ich (2000).
Susanne Alge
Premiere für Han Li
Limbus 2009 (Reihe Zeitgenossen)
ISBN 978-3-902534-24-8
Gebunden mit Schutzumschlag, 296 Seiten
19,20 Euro
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"Unter Tage" Von Marlotte Neumann.
"Kalter Hund" von Karin Reschke.