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Beitrag vom 15.12.2009
Jutta Voigt - Im Osten geht die Sonne auf
Claire Horst
"Berichte aus anderen Zeiten", der Untertitel macht deutlich, worum es in dem Buch der Journalistin geht. Die hier versammelten Texte erschienen zuerst zwischen 1979 und 2005 in den Zeitungen ...
... Sonntag, Freitag, Wochenpost, Zeitmagazin, Die Woche, Frankfurter Rundschau und Merian.
Es sind keine wirklichen Reportagen in dem Sinne, dass sie über bestimmte Ereignisse berichten würde. Es passiert nicht viel in ihren Texten, insbesondere in denen aus der Zeit vor der Wende. Alltagsbeschreibungen sind es, kleine Beobachtungen in der Kneipe, im Konsum oder auf der Straße. Mit feinem Blick fürs Detail erzählt Voigt von der Arroganz der Bäckereiverkäuferinnen, die einen langhaarigen Jungen nur unwillig bedienen und von der Kommunikation durch die Fenster eines Hinterhauses.
Vorsichtig schreibt die Journalistin auch vom allgegenwärtigen Mangel in den Kaufhäusern. Ihr "Konsummann" ist ein Verkäufer mit Persönlichkeit, einer, der seinen Beruf mit Leib und Seele ausübt, auch mal seine eigenen Büroklammern herschenkt, wenn gerade wieder keine im Angebot sind. Wer diese Texte heute liest, erhält einen kleinen Einblick in das Lebensgefühl der DDR in den letzten Jahren vor der Wende.
Mit der Wende ändert sich der Tenor der Beiträge. Interessanterweise behandelt der erste Text aus dieser Zeit das Phänomen der Wendehälse im Journalismus. In ihm thematisierte die Journalistin damals das, was sie selbst genauso tat wie ihre KollegInnen: sich nach dem Wind drehen. "Reagieren wir Journalisten wie Handpuppen, immer und überall einsetzbar? Vigilante Neutrale, wenige Zeitgeister, Verwandlungskünstler, Verhüller oder Enthüller, je nach Bedarf des Auftraggebers? Können so lange Beherrschte so schnell herrschen?" Zeitungen wie Fernsehsender waren plötzlich offen für das Neue, als hätten sie schon immer auf das Ende des Sozialismus gewartet.
Voigt nimmt in ihren Artikeln den Wandel Ostdeutschlands vor allem als Beschleunigung wahr. Plötzlich ist der gemächliche Trott dahin, in dem das Leben bisher verlief, spielen Konkurrenz und das sich Behaupten auf dem Markt eine Rolle. "Das Leben rast, überschlägt sich, stolpert vorwärts. Wie wenn ein verträumter Spaziergänger, der gemächlich eine stille Straße entlang schleudert, plötzlich von hinten einen Tritt kriegt, hinfällt, aufsteht und am nächsten Tag ein Geschäft für Leichtmetalljalousien eröffnet."
Jutta Voigt probiert für ihre LeserInnen aus, was der Westen anzubieten hat, Positives wie Negatives. Von ihren Besuchen im Pornokino, das sie bis dahin nur vom Hörensagen kannte, über die Verhaftung von vietnamesischen Zigarettenhändlern, die mit der Wende ihren Arbeitsvertrag verloren haben, bis zur Auseinandersetzung mit der neuen Identität, die die Ostdeutschen sich nun aneignen sollten, setzt sie sich mit allen Neuerungen auseinander. Im Jahr 1998 ist vom Osten nur noch die "Ostpro 98" übrig geblieben, eine Messe mit Ostprodukten.
AVIVA-Tipp: Jutta Voigts Beobachtungen sind nett zu lesen und vermitteln einen guten Eindruck vom Alltagsgefühl der sich ändernden Zeiten. Das ist ganz spannend, doch nicht weltbewegend. Dazu sind die kleinen Beiträge zu assoziativ, zu willkürlich. Zudem sind die kurzen Zeitungstexte dazu gemacht, schnell gelesen zu werden, Stück für Stück als kleine Abwechslung zu den Zeitungsnachrichten. In Buchform wirkt der glossenartige Stil etwas ermüdend. Wer die eigenen Erinnerungen wachrufen will oder mehr über das Lebensgefühl in Ostdeutschland wissen möchte, ist mit diesem Buch dennoch gut beraten.
Zur Autorin: Jutta Voigt, geboren 1941 in Berlin, studierte Philosophie und war bis 1989 Redakteurin bei der Wochenzeitung "Sonntag". Seit der Wende schrieb und schreibt sie u. a. für "Die Zeit", "Freitag" und GEO. Jutta Voigt wurde mit dem Bundesverdienstkreuz und dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet. Zahlreiche ihrer Feuilletons und Reportagen erschienen bereits in Buchform. Von ihr stammen auch die Bücher "Der Geschmack des Ostens" (2005) und "Westbesuch" (2009).
Jutta Voigt
Im Osten geht die Sonne auf. Berichte aus anderen Zeiten
be.bra Verlag, erschienen 2009
ISBN 978-3-86124-635-0
224 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
16.90 Euro
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