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Beitrag vom 18.12.2009
Bettina Brand-Claussen und Viola Michely - Irre ist weiblich. Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900
Sunna Krause-Leipoldt
Der Katalog der Sammlung Prinzhorn wurde 2004 anlässlich der Ausstellung in Heidelberg "Irre ist weiblich. Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900" heraus gegeben. Im...
...März 2009 erschien er als Neuauflage im Verlag Wunderhorn.
Um 1900 waren in psychiatrischen Anstalten wesentlich mehr Frauen als Männer interniert, doch nur 20 Prozent der Künstler der Sammlung Prinzhorn sind weiblich. Wer sind diese Frauen, deren Werke aufbewahrt wurden?
Die Biographien der Frauen sind noch nahezu unbearbeitet, viele ihrer Werke noch unentdeckt. Die Intention der Herausgeberinnen war es, durch Ausstellung und Katalog, den heute zum großen Teil vergessenen, damals entmündigten Künstlerinnen ihre Würde, "den Bildern ihre Autorinnen und ihre Geschichte zurück zu geben."
Die Arbeiten der Frauen bewegen sich zwischen Collage, Bodeninstallation, Textilien, aber auch Zeichnung und Malerei. Über manch ungewöhnliche Produktion geben nur noch Fotografien oder Einträge in spärlich erhaltenen Krankenakten Aufschluss.
Der Bildband zur Ausstellung liefert der Leserin umfangreiche Informationen zur Situation von Frauen in psychiatrischen Kliniken dieser Zeit. Gisela Steinlechner, Mitarbeiterin des Germanistischen Institut in Wien und Ausstellungskuratorin, schreibt unter anderem: "Im Irrenhaus ist der lebensstrukturierende Austausch zwischen Drinnen und Draußen unterbrochen, so als wäre die Welt zusammengeschrumpft auf ein Zimmer und ein zugewiesenes Bett, das den Frauen im Zuge ´therapeutischer Maßnahmen´ manchmal auch noch entzogen wird." Verdeutlicht werden die Beschreibungen von Fotografien einiger Kliniken und der in ihnen stationierten Frauen in dem Kapitel "Dreiklassen-Alltag in Irrenanstalten um 1900".
Viele der internierten Frauen waren nicht im eigentlichen Sinne des Wortes "krank". Häufig wurden sie von Angehörigen eingewiesen, wenn sie ihnen lästig waren und ihr Lebensstil nicht gesellschaftskonform war. So wurde im August 1914 Charlotte C. von ihrem früheren Ehemann in eine Heilanstalt eingeliefert, da er ihre Heiratspläne mit einem jüngerem Mann ablehnte. Erst nachdem Charlotte C. von ihren Heiratsabsichten abgelassen und in eine Bevormundung eingewilligt hatte, durfte sie die Klinik wieder verlassen.
Der Katalog stellt fünf Künstlerinnen mit detaillierten Werkbiographien vor. Frau von Zinoview, Elisabeth Faulhaber, Johanna Wintsch, Frau St. und eine anonyme Patientin, deren Arbeiten unter dem Namen "Fall 202".inventarisiert wurden. "Zur Person der malenden Patientin gibt es keinerlei Angaben, außer der diagnostischen Beurteilung Dementia praecox", heißt es im Kapitel zu der unbekannten Künstlerin. Ihre Bilder und Zeichnungen lassen jedoch "einen Hang zum Sarkasmus" und "Wissen um eine akademische Kunstpraxis" erahnen.
Zu mehr als fünfzig weiteren Frauen findet die LeserIn in dem Katalog Kurzbiographien und Abbildungen ausgewählter Arbeiten. Des weiteren sind von 15 Künstlerinnen Briefe an FreundInnen, Eltern oder Ehemänner abgedruckt, die sie während ihres Zeit in der Psychiatrie geschrieben haben.
AVIVA-Tipp: Der Katalog ist nicht nur ein abstraktes Werkverzeichnis, vielmehr verleiht er den Künstlerinnen eine Stimme. Die umfangreichen Informationen über die Gegebenheiten in den Kliniken um 1900 vermitteln den LeserInnen die schmerzlichen Erfahrungen der internierten Frauen und durch die persönlichen Briefe der Künstlerinnen gewinnt der Katalog einen Bezug zur Realität, der berührt.
Zu den Herausgeberinnen: Bettina Brand-Claussen, geboren 1947 in Celle / Hannover, studierte Kunstgeschichte in Marburg, Wien, Hamburg und Heidelberg. Ihre Dissertation schrieb sie über das religiöse Werk Fritz von Uhdes. Von 1978 - 1983 arbeitete Bettina Brand-Claussen an einer wissenschaftlichen Katalogisierung der Sammlung Prinzhorn in Heidelberg. In den Jahren 1988 - 1994 war sie als Mitherausgeberin der Zeitschrift "FrauenKunstWissenschaft" tätig und seit 1988 ist sie stellvertretende Leiterin der Sammlung Prinzhorn. Ihre Veröffentlichungen erschienen in Ausstellungskatalogen und Sammelbänden.
Viola Michely Schriftstellerin und Kuratorin wurde 1965 in Deutschland geboren. Sie unterrichtet Kunst und Philosophie an der August-Macke Schule in Bonn. Weitere Infos unter: www.kunstforum.de
Bettina Brand-Claussen / Viola Michely
Irre ist weiblich. Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie um 1900
Wunderhorn Verlag, 2. Auflage, erschienen März 2009
264 Seiten, Gebundene Ausgabe
ISBN: 978-3-88423-218-7
34,80 Euro
www.wunderhorn.de
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