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Beitrag vom 30.05.2010
Sonja Ruf - Erste Lieben
Clarissa Lempp
Geschichten von Frauen, Männern und Uhus: Ein Roman und eine Erzählung der Autorin Sonja Ruf finden sich in dem hübsch aufgemachten Band "Erste Lieben" – selbstredend zum titelgebenden Thema.
Sonja Ruf erzählt in ihrem Roman "Offene Zeit" und in ihrer Erzählung "Frauen im Muschelkalk" von der ersten oder großen Liebe, die eben ganz unterschiedliche Gesichter und in diesem Falle auch wundersam mysteriöse Seiten trägt.
Die eine Liebe ist im wahrsten Sinne eine lebenslange. Und eine die mit Tabus bricht, über Grenzen geht. "Offene Zeit" erzählt eine intensive Liebe, eine aufwühlende - zwischen Pflegegeschwistern. Im Schwimmbad führt uns Sonja Ruf in die Beziehung zwischen der damals fünfjährigen Tina und ihrem fast zehn Jahre älteren Pflegebruder ein. Wo es anfangs um kindliches Verlangen nach Aufmerksamkeit geht und der große Bruder Sebastian dem kleinen Mädchen Beschützer und Publikum ist, wächst in Tina, die sich später Amalia nennt, als junge Frau von 18 Jahren, das Verlangen nach dem Mann, der in der Kindheit ihr Bruder war. Über die nächsten Jahre folgen wir Tina-Amalias Verführungen, Sebastians Versuchungen, den Spielen, den Brüchen, den Pausen und der Entscheidung ihrer Liebe.
In "Frauen im Muschelkalk" strandet eine arbeitslose Köchin in Huybergen bei Halberstadt. Hier soll sie quasi als "Housesitter" das zum Verkauf, und immer noch leer, stehende Haus einer Freundin "beleben". Das verlassene Örtchen und seine letzten EinwohnerInnen werden immer skurriler - und doch vertrauter. Da ist die unbekannte Adlige, die sich zwar nie draußen zeigt, aber immer das Licht in ihrem Turmfenster brennen hat. Die Nachbarin, die in der Klinik des Nonnenklosters arbeitete und eben die Eulen und Uhus, die sich die Höhlen und Katakomben rund um das Schloss zum Zuhause gemacht haben. In der rätselhaften Müßigkeit von Huybergen findet die Köchin langsam mit sich selbst zusammen, kommt zur Ruhe in der Abgeschiedenheit und ganz ungeahnt dem Geheimnis des verwunschenen Landstrichs auf die Schliche. Zur Belohnung klopft dafür auch der Traumprinz an die Tür…
AVIVA-Tipp: Das Titelbild der Illustratorin Gabriela Francik erfüllt seinen Zweck über eine schöne Aufmachung hinaus und verbildlicht die Stärke der Geschichten in "Erste Lieben": Eine nackte Frau, in feinen einfachen Linien gezeichnet, ein wenig unbeholfen in der Haltung und doch mit einem anmutigem Lächeln, an einem Arm ein Schwimmflügel, gefiederte Schwingen breiten sich auf dem Rücken aus. Sonja Ruf überzeugt in den Momenten, in denen sie die mystische Seite betritt, aus der distanzierten Erzählung in die poetische Dichte ihrer Bilder eingeht. Sie öffnet in den Details, in den Nebengeschichten neue kleine Zwischenwelten. Die Entscheidung "Offene Zeit" mit der Erzählung "Frauen im Muschelkalk" zusammen zu veröffentlichen, war eine gute. Wo der Roman sich in Längen einer (zu viel) beschreibenden Sprache bedient, die manchmal unbequem distanziert, fast hölzern in den Dialogen und erotischen Momenten wirkt, schafft die Erzählung "Frauen im Muschelkalk" eine versöhnliche Verdichtung von Rufs Erzählkunst.
Zur Autorin: Sonja Ruf, geboren 1967, wuchs in einem Dorf im Nordschwarzwald auf, Ausbildung zur Verlagsbuchhändlerin, danach Studium der Geschichte in Frankfurt a.M. Mehrere Förderstipendien, Teilnahme am Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb. Freie Schriftstellerin und Dramaturgin in Frankfurt. Tanztheaterstücke (zusammen mit dem Choreographen Mohsen Hosseini). Ihr erster Roman, "Evas ungewaschene Kinder", erschien 1996 bei Nagel und Kimche, als Taschenbuch in 2000 im dtv. (Verlagsinformation)
Sonja Ruf
Erste Lieben
konkursbuch Verlag Claudia Gehrke, erschienen Frühjahr 2010
Mit Illustrationen von Gabriela Francik
Gebunden, mit Lesebändchen
ISBN 978-3-88769-389-3
12 Euro