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Beitrag vom 12.07.2010
Annette Kreutziger-Herr, Melanie Unseld - Lexikon Musik und Gender
Claire Horst
Ein Wahnsinnsunterfangen ist das: Die beiden Herausgeberinnen wollen nicht weniger leisten, als "sowohl die Historie des Geschlechterdiskurses als auch der Musikgeschichte und Musikwissenschaft...
... unter dem Aspekt "Gender" lexikalisch zusammenzufassen."
Annette Kreutziger-Herr hat mit "History - Herstory" bereits alternative Musikgeschichte geschrieben, und auch ihre Mitherausgeberin Melanie Unseld, Professorin für Kulturgeschichte der Musik, publiziert seit Jahren zum Thema.
Geballtes Wissen fließt also in das Lexikon ein. Ihre Herangehensweise vergleichen die Herausgeberinnen durchaus humorvoll mit der heute gefragten Renaturierung von Flussläufen, die der lange ausgeübten Begradigung entgegenstehe: Statt nur der "Hauptstrom" der Musikgeschichte sollen bislang übersehene Nebenflüsschen in den Blick genommen werden. "Zu den Opfern der historiografischen Flussbegradigung gehören Männer und Frauen gleichermaßen." Unter den Einzelgestalten, die überhaupt Eingang in den Kanon fanden, waren jedoch kaum Frauen. Diese Leerstellen zu benennen, weibliche Teilhabe an der Musikgeschichte überhaupt sichtbar zu machen, ist das Ziel des Lexikons.
In einem gewinnbringenden, doch äußerst knapp gehaltenen ersten Teil werden die letzten neun (!) Jahrhunderte der europäischen Musikgeschichte beleuchtet - bei knapp zehn Seiten pro Jahrhundert ist eine eingehende Untersuchung natürlich nicht möglich. Den begrenzten Raum nutzen die AutorInnen jedoch weidlich aus. So ist Spannendes zu erfahren etwa über die Troubadouras des 12. Jahrhunderts oder die Rolle der Frauenstifte für die Musik des 14. Jahrhunderts. Schon hier wird deutlich: "Pars pro toto", ein kleiner Ausschnitt repräsentiert das Ganze, ist das Arbeitsmotto der AutorInnen. "Wolfgangerl versus Nannerl" steht dann für die Verdrängung der Frauen aus der Musikgeschichte des 18. Jahrhunderts, für die gesamte Popmusik des 20. und 21. Jahrhunderts findet überhaupt nur Madonna nein: in dem ersten Teil des Lexikons Erwähnung.
Die AutorInnen konzentrieren sich also darauf, zumindest ein Bewusstsein zu wecken für den Anteil von Komponistinnen, Sängerinnen und Musikerinnen an der Kulturgeschichte. "Forschungsfelder für die Zukunft tun sich auf", konstatieren sie angesichts der vielen noch offenen Fragen. Für StudentInnen der Gender Studies oder Musikwissenschaften ist das Buch eine wahre Fundgrube, insbesondere dank der umfassenden Literaturhinweise.
Der Hauptteil des Buches, das eigentliche Lexikon, folgt allerdings einer etwas gewöhnungsbedürftigen Struktur. Es wurde nicht nach Namen- und Sachregister aufgeteilt, sondern sämtliche irgendwie zum Thema gehörigen Begriffe sind enthalten. Umfassende Themengebiete wie "Orte der Musik" oder "Autorschaft" stehen neben Personennamen und Genres. Das "Prinzip des Pars pro toto" führt auch hier dazu, dass einige ganz zentrale Figuren nicht auftauchen. Diamanda Galas? Fehlanzeige. Peaches? Nichts.
AVIVA-Tipp: Wahrscheinlich sind diese Einwände jedoch ungerecht - jeder Musikfan wird andere Lieblingsmusikerinnen vermissen. Auch dass ein dreispaltiger Eintrag zum Begriff "Elektronische Musik" viel zu kurz ist, wissen die AutorInnen selber. Als Einstieg in das Thema ist das Lexikon wärmstens zu empfehlen - und vielleicht wird es ja irgendwann auf eine zehnbändige Ausgabe erweitert.
Zu den Herausgeberinnen:
Annette Kreutziger-Herr leitet seit 2001 gemeinsam mit Dr. Melanie Unseld das Biographienprojekt "Europäische Komponistinnen" und seit 2005 das Drittelmittelprojekt "History|Herstory" (gefördert von der Mariann Steegmann Foundation), in dem musikwissenschaftliche Promotionsvorhaben, Publikationen zur Methodik der Musikgeschichtsschreibung, Konzerte und Tagungen unterstützt werden.
www.kreutziger-herr.de
Melanie Unseld ist Professorin für Kulturgeschichte der Musik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.
Annette Kreutziger-Herr / Melanie Unseld (Hrsg.)
Lexikon Musik und Gender
Verlag Bärenreiter, erschienen 2010
610 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, gebunden
ISBN 978-3-7618-2043-8
89 Euro
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