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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 14.07.2010


Regina Maria Anzensberger - West
Marie Heidingsfelder

Go West, where the skies are blue - Regina Maria Anzenberger begibt sich auf die Suche nach der "westlichen Idee" und zeigt sie als Simulacrum, zwischen konstruktiver Phantasie und falschem Schein




Der Äquator teilt die Erde in Nord und Süd, der Nullmeridian teilt sie in Ost und West. Er läuft durch das englische Greenwich und ist - im Gegensatz zu seinem horizontalen Pendant - völlig willkürlich. Wo und wie Orient und Okzident aufeinander stoßen, ist eine Frage der Grenzziehung - sei es auf internationaler, nationaler oder auch persönlicher Ebene. Und doch ist es gerade diese Dichotomie, die unsere Vorstellung der modernen Welt in zwei sauber getrennte Bereiche schneidet. Obwohl die gesteigerte Mobilität Entfernungen zusammenschrumpft, die Politik immer internationaler wird und die Weltwirtschaft die nationalen Märkte bestimmt, obwohl also die tatsächlichen Grenzen im Zuge der Globalisierung verschwimmen, ist die Faszination für "den Anderen" ungebrochen: Fern-Ost und wilder Westen.
Die Erforschung dieses Spannungsfeldes hat Regina Maria Anzenberger bereits in ihrem Bildband "East" begonnen - mit "West" folgt nun die logische Fortsetzung der Identitätssuche unter der Frage, ob der Westen nur noch ein Traum ist. Sechzehn FotografInnen begeben sich auf die Suche nach der westlichen Identität und ihren traumhaften Repräsentationen auf beiden Seiten des Meridians.

Westen, das ist eine junge Frau im - bis auf die glitzernden Pailletten anachronistischen - Westernoutfit, die im dritten Jahrtausend für den Traum von Freiheit und Abenteuer posiert. Westen, das ist die verstaatlichte, architektonisch perfekt konstruierte Autorität moderner Gefängnisse. Westen, das ist die morgendliche Denaturalisierung von der Bett- zur Tageslicht-Variante. Westen, das ist die imperative Verschränkung von Zeit und Geld. Auf der anderen Seite, im Osten, ist Westen die Indoor-Skihalle in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Und die Kulisse des Eiffelturms für Hochzeitsphotos in Shenzhen. Und der vage Traum eines besseren Lebens, den die Rallye Paris-Dakar alljährlich nach Nordafrika bringt - Regina Maria Anzensbergers Katalog enttarnt den Westen als Mosaik von Westlichkeiten, das schon lange keinen geografischen Mustern mehr folgt.

Die sechzehn Fotoserien stammen von Annet van der Voort, Arabella Schwarzkopf, Gianmaria Gava, Horst Friedrichs, Lauren Hermele, Mauro Bottaro, Paolo Woods, Philipp Horak, Reiner Riedler, Richard Ross, Robert Haidinger, Simone Casetta, Stuart Isett, Toni Anzenberger, Ulrich Eigner und Yadid Levy - diesen KünstlerInnen auf ihrer Spurensuche zu folgen, macht zweifellos Spaß: Nicht nur der Ideen, sondern auch der Qualität der Aufnahmen wegen, die immer wieder Momente einfangen, in denen sich Westlichkeit verdichtet. Was das Layout angeht, ist es dem Kehrer-Verlag ein weiteres Mal gelungen, dem Inhalt ein grandioses Format zu geben: Großformatige Fotos, ein silberglänzendes Cover und Seiten, die beim Blättern nicht zusammenfallen. Der Rücken des "Riesentaschenbuchs" ist nicht kaschiert und nur mit einer kleinen "WEST" Banderole beklebt.
Neben der Einleitung von Regina Maria Anzenberger und den Biografien der KünstlerInnen steht den Fotoserien ein Essay von Corinna Milborn voran, in dem sie einige der Fotoserien aufgreift und so ihre Vorstellung des Westens als Simulacrum vorstellt:
"Der Westen hat sich seine eigenen Fakes geschaffen, in denen er sich die Welt baut, wie er sie aus den eigenen Filmen kennt. In Disneyland reißen die Figuren aus dem Sonntags-Cartoon die Karten ab. Vor dem Kreml in der Türkei fliegt Superman über den Pool, den Karibikstrand findet man in einem Zelt in der trostlosen Ebene Brandenburgs und die Alpen stehen in Hallen sowohl in Dubai als auch im Ruhrpott - Skipiste inklusive. An den Kanten der Außenwände kommt hinter den aufgemalten Wolken der Beton zum Vorschein. (...) So hält sich der Westen aufrecht: als Illusion seiner selbst."

AVIVA-Tipp: Die Bände "West" und "East" sind eine inhaltlich und ästhetisch außerordentlich gelungene Annäherung an eine weltweite Identitätskrise. Ein Buch, das zu beidem einlädt: Zum Blättern und Kopfzerbrechen, zum Zerstreuen und Verorten.

Zur Herausgeberin: Regina Maria Anzenberger wurde in Wien geboren und arbeitet dort als Malerin, Gründerin und Geschäftsführerin ihrer 1989 gegründeten Agentur. Ihre Liebe zur Fotografie wurde durch ihre Tätigkeit als leitende Bildredakteurin bei einer Reihe österreichischer Magazine in den Jahren vor der Selbstständigkeit geprägt. Seit 2002 kuratiert sie außerdem regelmäßig internationale Ausstellungen. Weitere Informationen zu Regina Maria Anzenberger und ihrer Agentur finden Sie unter: www.anzenberger.com

West
Kehrer Verlag, September 2010
Sprache: Deutsch und Englisch
Taschenbuch, 272 Seiten mit 179 Farbabbildungen
ISBN 978-3-86828-067-8
57,40 Euro



Literatur

Beitrag vom 14.07.2010

AVIVA-Redaktion