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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 10.01.2010


Adrienne Goehler - Verflüssigungen. Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft
Rukshana Adrus-Wenner

Die Politikerin Adrienne Goehler zieht Bilanz über ihre Zeit als Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds und beschreibt die Kreative Klasse in einer sich verändernden, zukünftigen Kulturgesellschaft




Angelehnt an dem Begriff "flüchtiger oder flüssiger Moderne" des Soziologen Zygmunt Bauman beschreibt Adrienne Goehler neue Wege und Umwege zur Umwandlung unserer Gesellschaft, der die Arbeit ausgeht. Anhand konkreter Projekte und Initiativen aus kulturellen, sozialen, bildungspolitischen sowie ökonomischen Bereichen zeigt sie die sich verbindenden Schnittstellen als zukünftige Lösungen einer Kulturgesellschaft mit einem anderen Arbeitsverständnis.

Sie bringt ihre vieljährigen politischen Erfahrungen und tieferen Kenntnisse und Kontakte in der Kunst- und Kulturszene ein, die sie als Präsidentin der Hamburger Hochschule für bildende Künste – einschließlich ihres kurzen Intermezzos 2001/2002 als Kultursenatorin in Berlin gesammelt hat.

Die Kulturpolitikerin, seit 2002 beim Hauptstadtkulturfonds (HKF), ist eine Querdenkerin und selbstbewusste Verfechterin der Künste. Ihr Auftreten für Unbequemes hat Manche/n in der cultural und political community aufgeschreckt. In den vier Jahren als Kuratorin hat sie Berlin als Kulturhauptstadt nicht nur in Deutschland, sondern auch international ein Renommée verschafft.

Es gibt eine lange Liste der durch HKF geförderten und finanzierten Projekte (Jahresetat 10 Millionen Euro) in allen künstlerischen Sparten. Der Zweck dieses Fonds ist nicht zuletzt, international relevante Ausstellungen nach Berlin zu holen bzw. hier entstehen zu lassen. Hervorzuheben sind die zum Teil erstmaligen Einzelausstellungen der weltweit bekannten Künstlerinnen Louise Bourgeois, Valie Export, Katherina Sieverding, Sophie Calle, Shirin Neshat oder Rebecca Horn in repräsentativen Räumen wie der Akademie der Künste, dem Hamburger Bahnhof oder dem Martin-Gropius-Bau.

Die Unbequeme wollte keine Großevents für den Mainstream fördern, sondern eine Plattform für profilierte Projekte bieten; also Experimentelles, Innovatives aus der freien Theater-, sowie Musiktheaterszene, der Clubkultur, der Literatur, des Tanzes, der zeitgenössischen bildenden Kunst wie der jungen Mode- und Musikindustrie, an außergewöhnlichen Locations wie der ehemaligen Staatsbank, dem U-Bahnhof Reichstag, der Brotfabrik, dem Kunst- und Medienzentrum Adlershof, dem Rundfunkhaus Nalepastraße, dem Wasserturm in Prenzlauer Berg.

Durch ihr vehementes Eintreten für die hiesige Off-Szene mit der Devise "staatsfern und kunstnah" geriet Goehler mit zwei Projekten unter Beschuss der Bundespolitik: mit ihrem Eintreten für die Zwischennutzung des Palastes der Republik mit dem Kulturprogramm "Volkspalast" sowie der Verteidigung der RAF-Ausstellung in den Kunst Werke.

Sie will mit ihrem Buch "Beispiele zum Gebrauch weitergeben und dadurch plausibel machen, dass es gerade die Heterogenität von Wegen ist, die gesellschaftliche und ökonomische Produktivität entfaltet, und wie viel Kunst und Wissenschaft dabei vermögen." Adrienne Goehler "fordert die Verflüssigung der Grenzen zwischen Politik und Kultur und zeigt das Potenzial einer Kulturgesellschaft."

Die Visionärin reflektiert über die ´Kreative Klasse´, "die mittlerweile ein Viertel der arbeitenden Bevölkerung umfasst und die eine viel wichtigere Rolle einnehmen müsste bei der Suche nach neuen Konzepten. In einer Zeit der Übergänge in neue Arbeitswelten und gesellschaftlicher Ambivalenzen werden ihre Fähigkeiten relevant für das Aufbrechen politischer und wirtschaftlicher Verkrustungen."

In "Verflüssigungen" zeigt sie Räume für Randständiges, vieles aus Eigeninitiativen und -Interessen entstandenes, so anhand des Buches "The Cultural Creatives" oder die Aneignung neuer Räume und Plätze in den schrumpfenden Städten im Osten und Westen, Interkulturelle Gärten für Flüchtlingsfrauen, Internationale Frauenuniversität für Technik und Kultur, TanzZeit für die Schulen.

Das Unfertige, Transitorische liegt ihr am Herzen, denn:
"In Berlin, der Hauptstadt, der armen, der schönen, die so tief in der Schuldenfalle sitzt und reich nur an kreativen Potenzialen ist, bricht sich die Bundesrepublik am radikalsten. Nirgends ist der Zerfall der bisherigen sozialen Sicherungs- und Finanzsysteme auf allen Ebenen sichtbarer als dort, nirgends die Abwesenheit von traditioneller Industrie deutlicher. Gleichzeitig gibt es wohl nirgendwo in der Bundesrepublik mehr junge, neugierige Menschen aus aller Welt, die wegen der oft diffus empfundenen Besonderheit in die Stadt drängen, offenkundig auf der Suche nach Lösungen, nach gesellschaftsrelevanter Ausweitung des eigenen Handelns, und dies, nachdem die große Ausschreibungseuphorie der Nachwendezeit verklungen ist, oder eben deshalb."

Die heute politische Pragmatikerin plädiert für nachhaltig Neues und nicht nur ökonomisch Kurzfristiges. Sie zeigt, wie innovativ und zukunftsorientiert die Berücksichtigung kultureller Kriterien im Denken und Handeln sein könnte. Somit macht sie mit ihrem Buch auch Mut für mehr Eigenverantwortung.

Zur Autorin: Adrienne Goehler wurde nach ihrem Studium der Germanistik, Romanistik und Psychologie Ende der achtziger Jahre bundesweit bekannt als Abgeordnete der Frauenfraktion in der Hamburger Bürgerschaft. Danach war sie zwölf Jahre Präsidentin der Hamburger Hochschule für Bildende Künste und von 2001 bis 2002 Senatorin für Wissenschaft, Forschung und Kultur in Berlin. Derzeit ist sie Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds Berlin.


Adrienne Goehler
Verflüssigungen

Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft
Campus Verlag, Frankfurt a.M., erschienen März 2006
250 Seiten, geb., s/w Fotos
ISBN 3-593-37812-4
24,90 Euro



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Beitrag vom 10.01.2010

AVIVA-Redaktion