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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 11.09.2010


Léa Cohen - Das Calderon Imperium
Adriana Stern

Erst im Jahr 1992, fast fünfzig Jahre nach Beendigung des zweiten Weltkrieges, kommen drei Frauen dem gut gehüteten Geheimnis um das Calderon Imperium, dem perfekt versteckten Vermögen ...




... des jüdischen Tabakkonzernbesitzers Jules Calderon auf die Spur.

Robert Calderon, der Sohn von Jules, tritt in die Fußstapfen seine Vaters und vergrößert das beträchtliche Vermögen durch kaufmännisches Geschick erheblich. Gleichzeitig spendet er für viele wohltätige Zwecke, was zu einem hohen Ansehen der Calderons in Bulgarien führt. Zum Besitz gehören nun auch eine Versicherungsgesellschaft, ein Bankhaus und Immobilien in den besten Lagen Sofias.

Jules Calderon vertraut in seinem Leben nur vier Menschen: seiner Frau Sophie, seinem Sohn Robert, seinem Sekretär und seinem Prokuristen Nuschkov. Mit der Hilfe seines Notars Teodor Marinov verschwindet sein Vermögen 1943 nach der Kollaboration des Zaren mit den Nationalsozialisten von einem Tag auf den anderen in einem Konsortium namens ALTERNUS mit Sitz in Zypern. Damit ist der gesamte Besitz für die bulgarischen Machthaber und ebenso für die Nationalsozilisten unerreichbar. Daran ändert sich auch nichts, als die Kommunisten die Macht in Bulgarien übernehmen. Robert wird 1949 von den kommunistischen Machthabern erschossen, weil er über den Verbleib des Vermögens weiterhin beharrlich schweigt und der Prokurist Nuschkov verschwindet spurlos.

Das Vermögen und der Zugriff darauf ist auf vier Vollmachten verteilt worden "Ich Alexej, für AL, Teodor Marinov für TE, Robert Calderon für R und Nuschkov für NUS" Weil Robert als Sohn jedoch für die Machthaber zu leicht erreichbar ist, wird die vierte Vollmacht auf Roberts Freund Jaques ausgestellt. Als Alexej Bulgarien verlässt, vertraut Teodor Marinov ihm seine Vollmacht an.

Es bedarf einiger detektivischer Fähigkeiten, diese Hintergründe aus dem Buch herauszulesen, denn die Autorin erzählt ihre Geschichte aus den Perspektiven ihrer drei Hauptprotagonistinnen Eva Marinov, Lora Levi/ Benbassat und Lisa Calder, die entweder gar keine Ahnung haben, was die Existenz dieses Imperiums betrifft oder jeweils nur über Wissensbruchstücke verfügen. Die vierte Perspektive ist die des mysteriösen Viktor.

Léa Cohen verteilt das gesamte Hintergrundwissen auf mehr als dreihundertfünfzig Seiten in Form von Erinnerungsrücksprüngen, inneren Monologen und geführten Dialogen im Jetzt. Mit diesem komplizierten und komplexen Aufbau des Buches entspricht die Autorin dem Aufbau des Calderon Imperiums, dessen wahre Struktur selbst vom Geheimdienst nicht zu entschlüsseln war, und verlangt der Leserin damit aber auch einige Kombinationsgabe ab.

Die Geschichte beginnt am 14. April 1992, als Eva Marinov, Tochter des Notars und Rechtsanwaltes Teodor Marinov, ihren schon längst vergessenen Onkel Alexej, einen Freund ihres Vaters, in Sofia trifft. Zum ersten Mal erfährt sie von ihm etwas über die wahren Hintergründe des Todes eines Freundes ihres Vaters, Robert Jules Calderon.
Zu diesen ersten wenigen Puzzlestücken, die die Autorin bis Seite Einhundert preisgibt, gesellen sich im Laufe der nächsten fast dreihundert Seiten die restlichen. Auf ihnen wird dann auch deutlich, dass ein mysteriöser Mann namens Viktor nicht nur in dem Leben von Eva Marinov eine große Rolle gespielt hat, sondern sich seine Anwesenheit wie ein roter Faden durch das gesamte Buch zieht und sich in jeder der Perspektiven der drei Frauen auf unterschiedliche Weise wiederfindet.
Erst im letzten Teil erzählt Viktor selbst seine Geschichte, die damit auch seine wirkliche Identität und die wahren Beweggründe seines Handelns aufdeckt.

Léa Cohen hat ihre eigene Erfahrung dazu genutzt, das Thema der Enteignung jüdischen Vermögens während des Zweiten Weltkrieges in Bulgarien aufzugreifen. Sie ist die Tochter eines Anwaltes, der fünfundvierzig Jahre lang Dokumente über jüdisches, konfisziertes Eigentum aufbewahrte und sie nach dem Fall des Eisernen Vorhangs den Geschädigten übergab, damit das Eigentum endlich in den rechtmäßigen Besitz zurückkommen konnte.

AVIVA-Tipp: Auch wenn das Buch entgegen der Ankündigung im Klappentext weniger ein Thriller ist und auch in Teilen eher unstrukturiert wirkt, ist es dennoch überaus lesenswert. Léa Cohen vermittelt ein umfassendes Wissen über die politische und gesellschaftliche Geschichte Bulgariens und schreibt abgesehen von dem eher schwierig zu lesenden Beginn durchaus spannend. Die Lebensgeschichten der drei sehr unterschiedlichen Frauen sind facettenreich und berührend geschildert! Und nicht zuletzt gebührt der Autorin Dank für den mutigen Schritt, das Schweigen über die Verbrechen an Jüdinnen und Juden in Bulgarien während der Kollaboration mit Deutschland gebrochen zu haben.

Zur Autorin: Léa Cohen geboren in Sofia, studierte in ihrer Heimatstadt Klavier und in Utrecht Musikgeschichte. Sie war Leiterin der Philharmonie in Sofia und nach 1989 Botschafterin Bulgariens in Belgien, Luxemburg, der Schweiz und Liechtenstein. Sie lebt nahe Neuchâtel und in Sofia.
Zum Ãœbersetzer: Thomas Frahm, geb. 1961, freier Autor, Ãœbersetzer, Bulgarien-Journalist und Publizist, lebt in Sofia/ Bulgarien.
(Quelle Bundeszentrale für politische Bildung)

Léa Cohen
Das Calderon Imperium

Verlag: Paul Zsolnay Verlag, erschienen: 08.02.2010
Originalausgabe: Consortium Aternus im Verlag Riva, Sofia 2005
Ãœbersetzung aus dem Bulgarischen: Thomas Frahm
Hardcover, 384 Seiten

ISBN: 978-3-552-05490-5
21,50 Euro

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Beitrag vom 11.09.2010