Kirsten Heisig - Das Ende der Geduld. Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 15.09.2010


Kirsten Heisig - Das Ende der Geduld. Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter
Evelyn Gaida

Cover und Titel erinnern an die Titelseiten von Boulevardblättern. Das Buch enthält dagegen keine aufrührerischen Schlagwörter, sondern differenziert und sachkundig vorgetragene ...




... Erfahrungsberichte, Analysen und dringende Handlungsempfehlungen einer engagierten Jugendrichterin zum Thema Jugendkriminalität. Ihr Anliegen macht sie unmissverständlich klar: "Wir müssen handeln. Jetzt."

Probleme dort lösen, wo sie entstehen

Heisigs persönlicher Einsatz ging über das `Verrichten´ ihres beruflichen Pensums sehr weit hinaus: "Sie ist nach harten Arbeitstagen zu uns gekommen. Sie hat den Eltern gesagt, dass ihre Kinder kriminell werden, wenn sie nicht aufpassen. Hat ihnen gesagt, wie wichtig die deutsche Sprache ist", erinnert sich Kazim Erdogan, der türkische und arabische Eltern als Psychologe betreut, gegenüber dem "Tagesspiegel". Ihrem Schlagzeilenimage der "Richterin Gnadenlos" kommt Kirsten Heisig in ihren Ausführungen nicht nach. Gerade das "Abstrafen" hält sie für sinnlos. Dementsprechend spricht sie sich gegen eine Verschärfung von Strafen oder Senkung des Strafmündigkeitsalters aus. Auch dem Vorwurf eines zu laxen Umgangs mit jugendlichen StraftäterInnen widerspricht sie. Angemessene Gesetze seien vorhanden, ihnen müsste jedoch Geltung verschafft werden. Die richtige Grundidee ist ihrer Meinung nach, "dass die Probleme dort zu lösen sind, wo sie entstehen, und nicht weitergereicht werden sollen." Derzeit stünden die RichterInnen jedoch am Ende einer "Kette von Fehlentwicklungen" und könnten nur noch als erfolgloser "Reparaturbetrieb" agieren, wenn es längst zu spät sei. Heisigs Buch beinhalte die "Berliner Perspektive" und "meine Sicht der Dinge". Ihre Beobachtungen und Schlussfolgerungen seien vermutlich jedoch auch auf andere Großstädte übertragbar.

Andere Strategien notwendig


Das "Gefühl spät dran zu sein" durchzieht quälend das Buch. Aufgestaute Ohnmacht dringt durch den juristisch behördlichen Sprachgebrauch, Fragen werden immer wieder gestellt - "Warum kann nicht ...?", "Warum wird nicht ...?" Oft ist auch von Fassungslosigkeit und Entsetzen die Rede. Im Vorwort heißt es: "Ich übe meinen Beruf nach wie vor mit Überzeugung aus und möchte sinnvolle Entscheidungen treffen, die einerseits zur Reduzierung der Jugendkriminalität beitragen und andererseits dem Menschen, der sich vor Gericht zu verantworten hat, die Chance eröffnen, ein Leben ohne Straftaten zu führen. Seit längerer Zeit habe ich nicht mehr den Eindruck, beiden Zielen gerecht werden zu können." Angesichts einer zunehmenden Brutalisierung von Jugendlichen und der verheerenden Situation sozialer Brennpunkte sei es unbedingt notwendig "auf mehreren Ebenen andere als die bisher angewandten Mechanismen zu entwickeln." Heisig schildert Beispiele typischer Lebensumstände und Delikte jugendlicher GewalttäterInnen. Obwohl sie absichtlich nicht die schlimmsten Fälle ausgewählt habe, lassen sie erahnen, mit welcher Realität sich JugendrichterInnen tagtäglich konfrontiert sehen.

Jahrzehntelange Unbeweglichkeit

Der Geduldsfaden ist Kirsten Heisig nicht in Bezug auf ihren erzieherischen Auftrag als Jugendrichterin gerissen, so wird schnell deutlich. Sie ging jedem Fall aktiv bis ins Detail nach und über die Grenzen ihres Büros ständig hinaus, holte Erkundigungen ein, besuchte, fragte nach, mit einem hohen Anspruch an sich selbst: "Der Richter sollte sich ein umfassendes Bild von der aktuellen Lage der Verurteilten machen können." Das Ende ihrer Geduld erreichte sie angesichts jahrzehntelanger Unbeweglichkeit auf institutioneller Ebene – und setzte mit unermüdlicher Überzeugungsarbeit das Neuköllner Modell um. Zuerst wurde es in ihrem Bezirk angewendet, dem Rollbergviertel in Nord-Neukölln und Problemkiez schlechthin, mittlerweile in ganz Berlin. Durch ein gezieltes Ineinandergreifen von Polizei, Schule, Jugendamt, Staatsanwaltschaft und RichterIn ermöglicht dieses Modell ein beschleunigtes Jugendverfahren und somit schnelles Reagieren auf Straftaten. Die Angeklagten sollen sich vor Gericht noch daran erinnern, um welche Tat es geht(!), und das Urteil als direkte Konsequenz ihres Handelns begreifen können. Heisig sieht darin ein "Element zur Verhinderung von Intensivtäterkarrieren".

Schule als "entscheidende Stellschraube"

Durch systemübergreifendes Zusammenarbeiten wollte Heisig auch der erheblichen Zunahme von Gewaltbereitschaft und -delikten unter arabisch- und türkischstämmigen Jugendlichen möglichst vorbeugend entgegenwirken. Sie bezeichnete die Schule als "entscheidende Stellschraube, einen Lebenslauf positiv zu beeinflussen". Umgekehrt seien nahezu alle (angehenden) Mehrfachtäter auch Schulverweigerer. Diese würden der Richterin zufolge im Schulsystem weitergereicht "wie heiße Kartoffeln" bis sie schließlich ganz ausscheiden, während Schule und Jugendamt jeweils an ihre Grenzen stoßen und sich den Handlungsbedarf gegenseitig zuweisen.

Prävention statt Kriminalität

Um es zu einer solchen Laufbahn nicht kommen zu lassen setzte Heisig auf Prävention: Der Staat dürfe jahrelangem Schuleschwänzen nicht als "zahnloser Tiger" zusehen und sich lächerlich machen, sondern müsse Vorschriften auch durchsetzen. Bei kontinuierlicher "Schuldistanz" seien Bußgelder notwendig, die jedoch erst durch gestraffte Abläufe Wirksamkeit erreichen könnten. Schulen müssten gestärkt und eng mit dem Jugendamt verknüpft werden, auch der Austausch mit der Polizei sei in zugespitzten Lagen unabdingbar, was in den Niederlanden beispielsweise bereits praktiziert werde. Heisig möchte kriminellen Entwicklungen rechtzeitig etwas entgegensetzen, solange es Entwicklungsspielraum noch gibt. Damit sie bestenfalls erst gar nicht als Richterin ihres Amtes walten muss, ging Heisig auf die BewohnerInnen im Kiez zu, organisierte unablässig Elternabende, arbeitete mit türkischen und arabischen Zentren zusammen und besuchte zuständige SozialarbeiterInnnen in Anti-Gewalt-Projekten.

Gesprächsrunde zum Gedenken an Kirsten Heisig am 13.09. 2010

Ende Juni 2010 nahm Kirsten Heisig sich völlig unerwartet das Leben. Kurz zuvor hatte sie dem Herder Verlag telefonisch noch letzte Änderungen an ihrem Buchmanuskript durchgegeben.

Am 13. September 2010 kamen im Theatersaal des Heimathafens Neukölln zahlreiche KollegInnen, FreundInnen und BürgerInnen zusammen, um der Jugendrichterin in einer Gesprächsrunde zu gedenken. Die TeilnehmerInnen des Gesprächs, das von Tagesspiegel-Redakteurin Tissy Bruns moderiert wurde, waren Heinz Buschkowsky (Bezirksbürgermeister Neukölln), Monika Maron (Schriftstellerin), Dr. Andreas Behm (Leitender Oberstaatsanwalt), Günter Räcke (Jugendrichter) und Hüseyin Ekici (Schauspieler).

Gesprächsrunde zum Gedenken an Kirsten Heisig am 13.09. 2010 im Theatersaal des Heimathafens Neukölln © Evelyn Gaida


Lebensbejahend, dynamisch und sympathisch sei sie gewesen, sagte Buschkowsky, aber nicht bequem. Die Welt einer Jugendrichterin sei nicht die heile Welt, in Neukölln gebe es Verhältnisse, die den kriminellen Lebensweg vieler Jugendlicher zwangsläufig vorzeichneten. Heisig hätte bei besser gestellten BürgerInnen und sich selbst eine Verantwortung zum Handeln gesehen und gesagt "lasst es uns probieren, alles andere haben wir schon probiert." Gegen das Neuköllner Modell habe es anfangs Widerstände gegeben, berichtete Heisigs ehemaliger Kollege Räcke. Heisig und er hätten es jedoch nicht bei einem Lamento und "Sprechtabu" belassen wollen und seien "von unten nach oben vorgegangen." Buschkowsky führte an, er sei es müde, von anderen Leuten zu hören, "dass es die Probleme, mit denen ich jeden Tag zu tun habe, dass es die gar nicht gibt." Entscheidendes Problem sei auch "die Versäulung der Behörden": "Jeder achtet darauf, dass ihm keiner in die Suppe spuckt und an den Wagen fahren kann."

Die Sicht eines ehemals straffälligen Jugendlichen steuerte der 19-jährige Schauspieler Hüseyin Ekici bei, der Heisig einst als Angeklagter im Gerichtssaal gegenübergestanden hatte. Die Gesellschaft habe ihm das Gefühl gegeben "ein Nichts zu sein", fast überall sei er ausgeschlossen gewesen und berichtet von Erfahrungen mit Rassismus ("Scheiß Kanake"). Schuleschwänzen sei einfach üblich gewesen. Den Ausschlag zur Kursänderung habe schließlich seine alleinerziehende Mutter gegeben: "Wenn ich von Hartz IV lebe, schmeißt sie mich aus der Wohnung." Für seine Träume müsse man auch (gewaltlos) kämpfen, meinte er.

"Wir leben in einer Gesellschaft, in der an den Problemen bewusst vorbeigeschaut wird" schreibt Kirsten Heisig in ihrem Buch. Was sie sich wünsche, sei eine "ehrliche Debatte jenseits von Ideologien." An anderer Stelle heißt es: "Und umso wichtiger ist die Aufgabe, generell und massiv dem Rassismus entgegenzuwirken."

AVIVA-Tipp: Ein mutiges und ungemein wichtiges Buch, das die Thematisierung des schwelenden Problems der Jugendkriminalität nicht verantwortungslosen PopulistInnen und "ProvokateurInnen" mitsamt den Niederungen ihrer Denk- und Sprachmuster überlässt. Jugendrichterin Kirsten Heisig entwickelte stattdessen direkt aus der Praxiserfahrung und dem menschlichen Bezug heraus differenzierte Lösungsvorschläge und Denkanstöße, angesichts von unhaltbaren Missständen einen umfassenden Maßnahmenkatalog. Vom Erziehungsgedanken des Jugendgerichtsgesetzes beseelt, entwarf Heisig Strategien mit dem Ziel, Bildung und Aufklärung konsequent als Bollwerk gegen Kriminalität frühzeitig in die Tat umzusetzen, wo dies hartnäckig versäumt wird.

Zur Autorin: Kirsten Heisig, geb. 1961, starb Ende Juni 2010 in Berlin. Sie war Jugendrichterin, das von ihr wesentlich initiierte sogenannte "Neuköllner Modell" zeichnet sich vor allem aus durch Prävention, Abschreckung, Konsequenz und Schnelligkeit.

Kirsten Heisig
Das Ende der Geduld. Konsequent gegen jugendliche Gewalttäter

Herder Verlag, 2. Auflage 2010
Flexcover, 205 Seiten
ISBN 978-3-451-30204-6
14, 95 Euro

Weitere Informationen finden Sie unter:

www.herder.de

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Beitrag vom 15.09.2010

Evelyn Gaida