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Beitrag vom 16.10.2010
Hannah Arendt und Gershom Scholem - Der Briefwechsel
Claire Horst
Sie hätten kaum unterschiedlicher sein können, die Heidegger-Schülerin Hannah Arendt und der Kabbala-Gelehrte Gershom Scholem. Und doch verband sie eine Freundschaft über mehr als zwanzig Jahre.
Zunächst ist es der Selbstmord des gemeinsamen Freundes Walter Benjamin, der sie zusammenbringt. 1940, auf der Flucht vor den Nationalsozialisten, hat ihn der Mut verlassen. "Juden sterben in Europa und man verscharrt sie wie Hunde", mit diesen Worten teilt Arendt dem Freund Benjamins Tod mit.
Von ihren jeweiligen Schaffenszentren, den USA und Palästina/Israel, betrachten Arendt und Scholem das Geschehen in Europa, tauschen sich über die Entwicklung in Deutschland aus und bemühen sich um eine Veröffentlichung von Benjamins Werken. Ihren Anstrengungen ist es zu verdanken, dass seine Texte und Briefe nicht in den Kriegswirren verloren gingen. Zugleich zeigt der Briefwechsel auch die Animositäten zwischen Arendt und den Vertretern des Instituts für Sozialforschung, Horkheimer und Adorno, denen sie vorwirft, sich an Benjamins Arbeit zu bereichern.
Nicht nur Arendts Enttäuschung über die Nachkriegsentwicklung in Deutschland – sie beklagt das Selbstmitleid der Deutschen ebenso wie den allgemeinen Wunsch, schnell zur Normalität überzugehen –, geht aus ihren Briefen hervor. Ebenso kritisch beleuchtet sie die politische Entwicklung der USA in der McCarthy-Ära.
Mit der Gründung der JCR (Jewish Cultural Reconstruction) übernehmen Arendt und Scholem eine wichtige Aufgabe. Von den Nationalsozialisten geraubte jüdische Bücher und Kunstwerke sollen gesucht und den EigentümerInnen bzw. jüdischen Institutionen übergeben werden. Beide reisen daher in den 1940er Jahren zum ersten Mal wieder nach Deutschland. In ihren Briefen dokumentieren sie den Kampf um diese Kulturgüter.
Neben alltäglichen Betrachtungen über politische Fragen diskutieren Arendt und Scholem ihre jeweiligen Veröffentlichungen. Genau daran entzündet sich ein Streit, der die Freundschaft abrupt enden lässt. Schon 1946 war ihr Briefwechsel anlässlich Arendts Artikel "Zionism Revisited" eskaliert, den Scholem für antizionistisch hielt. Sie hatte ihm geantwortet: "Wie ist es möglich, dass ein Mensch sich ein Leben lang mit Philosophie und Theologie beschäftigt und ernsthaft beschäftigt, und dann ungestört und unbekümmert (…) sich als Bekenner eines Ismus herausstellt." Arendt legte damals trotz ihrer unterschiedlichen Auffassungen Wert auf ihre Freundschaft: "Mir sind menschliche Beziehungen meist sehr viel wichtiger als sogenannte ´offene Aussprachen´."
Der spätere Streit lässt sich nicht so einfach beenden. Arendts Buch zum Eichmann-Prozess in Jerusalem erbittert Scholem so sehr, dass die Freundschaft daran zerbricht. Arendts Kritik an den jüdischen Repräsentanten während der Shoah, ihre Rede von der jüdischen "Mitschuld" stört ihn ebenso wie sie die von ihm geforderte "Liebe zum jüdischen Volk" als Patriotismus ablehnt.
AVIVA-Tipp: Der sehr sorgfältig edierte Band liefert nicht nur in zahlreichen Fußnoten aufschlussreiche Hintergrundinformationen zur Entstehungsgeschichte der Werke Arendts und Scholems. Unter den zusätzlich angefügten Dokumenten sind Arendts "Field Reports" für die JCR und ein Aufsatz, den sie zu Scholems Hauptwerk "Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen" verfasste, zudem Aufsätze der HerausgeberInnen zur JCR und zum Verhältnis Arendts und Scholems. Erwähnenswert ist auch der umfangreiche Literaturanhang und das Personenverzeichnis.
Zu den AutorInnen:
Hannah Arendt (1906-1975) flüchtete aus Nazideutschland über Frankreich und New York. Sie lebte und lehrte bis zu ihrem Tod in den USA. Bekannt wurde sie unter anderem durch ihre Werke "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" und "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen."
Gershom Scholem (1897–1982) verließ als überzeugter Zionist schon 1923 Deutschland. Bis zu seinem Tod lehrte er in Jerusalem. Mit seinen Werken begründete er einen neuen Forschungszweig: die wissenschaftliche Erforschung der jüdischen Mystik, die ein neues Verständnis des Judentums und der jüdischen Geschichte eröffnet hat.
Zu den HerausgeberInnen:
Marie Luise Knott, geboren 1953, lebt in Berlin. Sie ist freie Publizistin.
David Heredia, geboren 1972, lebt in Berlin. Er ist Historiker und Kulturwissenschaftler. (Verlagsinformationen)
Hannah Arendt / Gershom Scholem
Der Briefwechsel
Herausgegeben von Marie Luise Knott unter Mitarbeit von David Heredia
Suhrkamp Verlag, erschienen am 11.10.2010
Gebunden, 695 Seiten, mit ca. 20 Abbildungen
39,90 Euro
ISBN: 978-3-633-54234-5
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Hannah Arendt - Das private Adressbuch 1951-1975
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