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Beitrag vom 24.11.2010
Kettly Mars - Fado
Marie Heidingsfelder
Wie sicher kann man sich seiner Identität sein? Als Anaise von ihrem Mann verlassen wird, zerfällt hinter der bürgerlichen Fassade ihre Existenz. Zu den Klängen des Fados erwacht Frida in ihr.
Stärke und Verletzlichkeit
"Wie mein Schweiß gleitet Frida endlich aus meinen Poren, wo sie schon seit langem wachte, von wo aus sie mich bewohnte, mich verzehrte. Ich gebe ihr eine Stimme. Ich errichte ihr eine Heimstatt. Ich erkläre sie für rechtmäßig."
Im Reichenviertel von Port-Au-Prince hatte Anaise mit ihrem Mann Leo ein Leben, das für die meisten Haitianer unerreichbar ist. Fern von Armut und Unterernährung teilten sie den Alltag in einem großen Haus, zwischen sicherer Arbeit und Einladungen bei Freunden.
Doch Leo verlässt sie für eine jüngere, eine, die bereit ist, ihm zu seinem Glück auch Kinder zu schenken.
Mitten in dieser Lebenskrise trifft Anaise zufällig auf den Zuhälter Bony, und mit ihm auf einen Ausweg: In ihr erwacht Frida, eine zweite Persönlichkeit, die nicht nur Nacht für Nacht in Bonys Bordell ihren Körper verkauft, sondern mit ungewohnter Selbstsicherheit auch eine Affäre mit ihrem Ex-Mann beginnt. Die Beschreibung dieser Selbstsicherheit ist wohl das bemerkenswerteste an Kettly Mars´ Roman: Gleichzeitig sensibel und rücksichtslos zeichnet sie das Bild einer Frau, die nicht mehr viel zu verlieren hat und deren Wunsch nach Intensität sie in eine Parallelwelt des rein körperlichen Begehrens führt. Selbst wenn Anaise und Frida auf den ersten Blick so unterschiedlich wie Tag und Nacht scheinen, handelt es sich nicht um eine platte Flucht in das eigene Gegenteil: Vielmehr teilen beide die gleiche Mischung aus extremer Verletzlichkeit und Stärke und das allgegenwärtige Leid des Fado, dessen Texte über unglückliche Liebe, soziale Missstände und die Sehnsucht nach vergangenen Zeiten den Klangteppich weben, auf dem beide Frauen sich bewegen.
"Was mich wirklich interessiert ist das Innere des Menschen"
Kettly Mars gelingt es, den Rhythmus dieser Musik auch in die Sprache ihres Romans aufzunehmen. Sie bezeichnet sich selbst als "poète intimiste", als Dichterin der intimen Details, deren Blick sich unbefangen auch in die versteckten Winkel und Tabuzonen der Seelenlandschaften richtet. Aus den kurzen Sätzen entsteht in "Fado" eine Welt von unglaublicher Hitze und Plastizität, in der die Grenzen zwischen den beiden Frauen, zwischen Stärke und Schwäche und zwischen Wirklichkeit und Einbildung verwischen.
AVIVA-Tipp: Selten so schön gelitten. "Fado" ist eines der wenigen Bücher, die ihre Gebrauchsanweisung mitliefern: Eine CD von Amalia Rodrigues im Hintergrund, ein Glas Weißwein und im besten Fall eine Katze auf dem Schoß. Intensiv, mitreißend, verstörend und wunderbar.
Zur Autorin: Kettly Mars wurde 1958 in Port-au-Prince geboren. Als Mitglied der haitianischen Bourgeoise erhielt sie eine klassische Ausbildung und arbeitet noch heute als Verwaltungsangestellte in der japanischen Botschaft. Erst im Alter von 30 Jahren begann sie mit dem Schreiben, um sich selbst zu verstehen. International bekannt wurde sie mit den Romanen "Kasalé" (2005) und "L´heure hybride" (2005). Ihre Heimat Haiti, das koloniale Erbe und die gesellschaftlichen Tabuzonen stehen im Mittelpunkt ihres Schreibens. In Deutschland wurde sie vor allem durch ihren Artikel "Ich habe überlebt" bekannt, der nach dem Erdbeben am 21. Januar 2010 in der Zeit erschien.
Kettly Mars spielt eine wichtige Rolle im Kulturbetrieb Haitis, arbeitet an einer Anthologie der weiblichen haitianischen Literatur und ist Mitglied der Jury des Prix Henry Deschamps. Ihr neuestes Werk "Saisons Sauvages" wird gleichfalls bei litradukt übersetzt und soll 2011 erscheinen.
Kettly Mars
Fado
Das französische Original erschien 2008
Ãœbersetzt von Dr. Antje Tennstedt
Litradukt Verlag, erschienen Oktober 2010
Gebundene Ausgabe, 85 Seiten
ISBN: 978-3940435071
11,90 Euro
www.litradukt.de