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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 28.09.2011


Larissa Boehning - Das Glück der Zikaden
Evelyn Gaida

Drei Frauen in Berlin, drei Generationen vor dem Hintergrund erschütternder historischer Umwälzungen: Zweiter Weltkrieg, Mauerbau und -fall, Nach-Wende-Zeit. Laut wird in diesem Roman jedoch etwas ...




... anderes: Das Schweigen von Frauen ohne Selbstbestimmung, die Perspektive der Ausgeblendeten.

Es sind Biographien voller "ungelebtem Leben". Das Extreme der geschichtlichen Ereignisse wird hier immer mehr zum surrealen Rauschen in der Ferne. Boehning schreibt dennoch keinen ideologischen Opferroman über äußere Zwänge. Sie schreibt über die "Schlagbäume der Angst" in den Köpfen und Herzen, die Menschen voneinander und vom Leben abschneiden. Über Prägungen, die unbemerkt in nachfolgende Generationen hinüberfließen, und über die Suche des modernen Menschen nach Orientierung – allzu häufig der Tunnelblick in die selbstgemauerte Gefängniszelle, das erleichterte Abtreten eigenständiger Denkfreiheit für einen vorgegebenen geistigen Unterschlupf.

Schwindelerregende Themen. Für Boehning ist es zudem der schwierige zweite Roman nach dem erfolgreichen Debüt "Lichte Stoffe" (2007), das mehrere Auszeichnungen erhielt und auf der Longlist des Deutschen Buchpreises stand. Die unnahbaren, in sich zurückgezogenen Figuren des neuen Werkes machen es den LeserInnen nicht leicht, mit ihnen warm zu werden und Zugang zum Geschehen zu finden. Vielleicht ist das auch einer der Gründe dafür, dass die Charaktere oftmals nicht den Eindruck erwecken, aus Fleisch und Blut zu sein, sondern Figuren bleiben, eine Art historisches Konzentrat. Boehning betont es sogar wiederholt selbst: Es sind Figuren auf einer Bühne, gefangen in der falschen Rolle. Der Roman verströmt die Atmosphäre eines kühl sich entziehenden Graus – das jedoch immer wieder von Sprachschätzen und herausragenden Bildschöpfungen durchbrochen wird.

Die zurückgenommene, gemäßigte Tonart der Autorin beinhaltet eine große Stärke. Boehning rückt ihren Protagonistinnen, deren Widersprüchen und Irrwegen, nicht als Richterin zu Leibe: Nadja, ehemals leidenschaftliche Revuetänzerin, findet sich Ende der 30er Jahre in einer `verkehrten´ Welt wieder. Obwohl sie sich als Russin fühlt und Stalin verehrt, sind sie und ihre Familie als Deutschstämmige in Russland nicht mehr erwünscht. Ihr pragmatischer Ehemann Anton beschließt nach Berlin auszureisen, Nadja fügt sich voller Abwehr und Widerwillen. Das faschistische Deutschland ist ihr verhasst.

Völlig entwurzelt führt die Vertriebene nunmehr ein Hausfrauenleben und zieht sich in die innere Emigration ihrer eigenen Welt zurück. Sie verklärt Russland zum Staat, in dem "Frauen als wahrhaft gleichberechtigt" betrachtet werden, und Stalin zum "gutmütigen Herrn mit den treuen Augen", zur übergeordneten väterlichen Autorität: "Sie brachte ihm die Zuneigung eines Kindes entgegen, im Grunde bedingungslose Liebe (…). Über Jahre hinweg, nach seinem Tod, hatte sie beharrlich alle Aufklärungsversuche ignoriert, die Historiker betrieben, damit gerade Menschen wie sie ihre Meinung über diesen Mann änderten. Es war keine Ignoranz, im Gegenteil." In ihrer schwermütigen Resignation wird Nadja für ihre Tochter Senta zur wandelnden Unerreichbarkeit.

Senta möchte als junge Frau nicht so unrealistisch sein wie ihre Mutter. Die Lehramtsstudentin ist schwanger von ihrer großen Liebe Gregor, dem 68er-Prototyp schlechthin. Er geht freiwillig in die DDR, um von dort aus die Weltrevolution voranzutreiben. Senta verschweigt das Kind und hält ihn nicht zurück, will ihn aber auch nicht begleiten. Kurz darauf heiratet sie Gregors Freund Michael, einen aufstrebenden Juristen, den sie nicht liebt. Sie erinnert sich daran, "als Frau in dieser Zeit nicht wirklich die Wahl zu haben, selbstbestimmt zu leben. Es schien ihr ein Recht zu sein, zu schauen, daß sie eine gute Partie machte und nicht plötzlich schwanger und ledig dastand."

Bei der Schilderung des Lebensweges von Senta läuft Boehning zur Hochform auf. In den Charakteren des zweiten Romanabschnitts lässt sie die Obsession einer ganzen Generation von traumatisierten Kriegskindern aufscheinen: Das unbedingte Streben nach Sicherheit und Wohlstand als oberste Priorität. Sentas Haus soll eine Burg sein, ein "Hochsicherheitstrakt", kein Provisorium. Vergeblich versucht Senta, die Leere ihrer Vernunftehe mit dem Gebären und Aufziehen von vier weiteren Kindern auszufüllen. "Wie ihre Mutter verließ sie diese Bühne nicht mehr, diesen Ort des Rückzugs, die Einsamkeit."

Auch Sentas Ehemann Michael wird in seiner Rolle des lenkenden Ernährers nicht glücklich. Der Anspruch, alles unter Kontrolle haben zu müssen, wird zur psychischen Erkrankung, zur Manie. Gegen den Kontroll- und Größenwahn der Leistungsgesellschaft hilft kein erwirtschaftetes Vermögen, keine Flucht ins Spaniendomizil, helfen keine hohen Zäune. Boehning zeigt sich als Entdeckerin großartiger Sprachbilder: Obwohl jede erdenkliche Ritze im mediterranen Refugium mit Silikon versiegelt ist, dringen sie ein, die Schaben und Kakerlaken, bricht sich das Unterdrückte und Verleugnete unaufhaltsam Bahn. "Eine Ahnung vielleicht auch, von den Kräften, die in jedem Menschen wirken."

In geistesgegenwärtiger Abwandlung eines Gedichtzitats aus Rilkes "Archaischer Torso Apollos" erfindet die Autorin eine unvergessliche Figur. Senta folgt einem außergewöhnlichen Impuls und besucht einen Wahrsager auf dem Jahrmarkt. Verkrüppelt, ohne Beine und am Kopf von einem Geschwür überwuchert, verströmt dieser Mann nichts als Gelassenheit und Heiterkeit. Menschenwürde jenseits des allumfassenden Funktionierens. Um gesund zu werden, müsse man sein Herz öffnen, sagt er.

Dagegen steht "unser verletzlichster Punkt. (...) Wo wir meinen, allein sein zu müssen, damit niemand unsere Schwäche sieht." Auch Sentas Tochter Katharina flieht vor der Wirklichkeit und aus der erlittenen Distanz zur Mutter ins mentale Exil, lässt sich ziellos treiben. Im letzten Teil des Romans geht Boehning etwas die Puste aus. Katharinas Charakter bleibt blass und stilisiert. Dennoch spiegelt sich in ihr die diffuse Orientierungslosigkeit all der Wohlstandskinder, die in den emotional ausgehöhlten Vorstadtfestungen ihrer Eltern obdachlos blieben. Gerade diesen Richtungsverlust begreift die Autorin am Ende jedoch als Möglichkeit, sich selbst zu finden.

AVIVA-Tipp: "Das Glück der Zikaden" ist das Schweigen ihrer Weibchen, heißt es in einem Ausspruch des griechischen Dichters Xenarchos. Larissa Boehning verfolgt über drei Frauengenerationen hinweg unauffällig einen Weg vom Verstummen hin zu einer Stille, die das "Gegenteil von Schweigen" sein könnte: Zu-Sich-Selbst-Kommen statt Selbstverleugnung und Zwang, eine Wende und ein Neuanfang wider den Zeitgeist, aus der Perspektive von Frauen.

Zur Autorin: Larissa Boehning, Jahrgang 1971, ist in Hamburg aufgewachsen und lebte eine Zeit lang in Spanien. Seit 2007 wohnt sie mit ihrer Familie wieder in Berlin. Larissa Boehning arbeitet als Grafikerin, Dozentin und freie Schriftstellerin. Für eine Geschichte aus "Schwalbensommer" erhielt sie den Literaturpreis Prenzlauer Berg (2002). Ihr Romandebüt "Lichte Stoffe" (2007) war auf der Longlist des Deutschen Buchpreises und wurde mit dem Kulturpreis der Stadt Pinneberg und dem Mara-Cassens-Preis für das beste Debüt des Jahres 2007 ausgezeichnet. Weitere Infos und Kontakt: www.stagelabor.de (Quelle: Galiani Berlin)

Larissa Boehning
Das Glück der Zikaden

Verlag Galiani Berlin, erschienen: Juli 2011
Gebunden mit Schutzumschlag, 320 Seiten
ISBN 978-3-86971-039-6
19,99 Euro

Weitere Informationen finden Sie unter:

www.galiani.de

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Beitrag vom 28.09.2011

Evelyn Gaida