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Beitrag vom 11.04.2011
Amélie Nothomb - Winterreise
Marie Heidingsfelder
Sich im Winter zu verlieben ist keine gute Idee. In einer ungeheizten Pariser Wohnung trifft Zoile auf die Frau seines Lebens, doch zwischen den beiden stehen nicht nur 15 Wollpullover...
...sondern vor allem Astrolabes Mitbewohnerin. Und egal, was Zoile sich ausdenkt, das Eis will nicht schmelzen.
Take me on a Trip
Amélie Nothombs jüngster Held ist ein unauffälliger, mittelalter Heizungsexperte, dessen einzige Besonderheit sein seltsamer Name ist: Zoile, nach einem griechischen Sophist, der vor allem durch für Kleingeistigkeit bekannt wurde. Als er während der Arbeit in einer ungeheizten Wohnung auf die charmante Astrolabe trifft, scheint der romantischen Rettung aus dem Eispalast nichts im Wege zu stehen. Doch Astrolabe will weder die Kosten für eine Heizungsinstallation tragen, noch den geschenkten Elektrostrahler benutzen – doch vor allem weigert sie sich, sich auch nur für wenige Stunden von ihrer Mitbewohnerin, der autistischen Schriftstellerin Aliénor, zu trennen.
Unter den gierigen Blicken der geistig behinderten Frau und getrennt durch unzählige Schichten Stoff bleibt dem vermeintlichen Retter nichts, als sein unerfülltes Begehren. Entschlossen, die Distanz zwischen Astrolabe und Zoile doch zu schmelzen, erfindet er Manöver von A bis Z - über B wie Briefe, G wie gemeinsame Einkäufe oder auch P wie psychedelische Drogen.
Wenige Wochen später sitzt Zoile enttäuscht und abgewiesen am Flughafen Roissy-Charles-de-Gaulle. Es ist das erste Mal, dass er sich darauf vorbereitet, ein Flugzeug in ein weltberühmtes öffentliches Gebäude zu steuern und er hat noch vier Stunden, um dieses merkwürdige Bedürfnis zu befriedigen: "Zu schreiben, was nicht lange genug existieren wird, um gelesen zu werden."
Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh´ ich wieder aus
So beginnt das klassische Original der Winterreise, das Franz Schubert zu Beginn des 19. Jahrhunderts komponierte. Dem besungenen Auszug folgt eine von heftigen Gefühlsschwankungen gekennzeichnete Wanderung durch die Winternacht, gegen deren Ende sich eine immer deutlichere Enttäuschung durchsetzt.
Fast 200 Jahre später legt Amélie Nothomb das gleiche Thema literarisch neu auf und katapultiert es aus der Romantik mitten in die Gegenwart: Zu Schuberts Klassik mischt sie die Beats von Aphex Twin, dem "Mozart des Techno", zum existentiellen Schmerz des Wanderers halluzinogene Drogen und zur stillen Enttäuschung die Waffen des modernen Terrors. Wahnsinnig gut.
Zur Autorin: Amélie Nothomb wurde 1967 als Tochter eines belgischen Diplomaten in Kobe, Japan, geboren. Ihre Kindheit und Jugend verbrachte sie hauptsächlich in Fernost. Außer Japan, China, Bangladesch und Burma lebte sie in den USA, bevor sie mit 17 nach Belgien kam, wo sie romanische Philologie studierte. 1992, mit 25, veröffentlichte sie ihren ersten Roman "Die Reinheit des Mörders" - ein Debüt, mit dem ihr sofort der nationale und internationale Durchbruch gelang.
Ihrer eigenen Aussage nach schreibt Amélie Nothomb genau 3,7 Romane pro Jahr, von denen sie nur einen einzigen veröffentlicht, da die anderen daneben gegangen und unlesbar seien. Gleichsam beschreibt sie sich als "schwanger mit Romanen."
Weitere Infos zur Autorin finden Sie unter: www.diogenes.ch
AVIVA-Tipp: Typisch Nothomb: Tabulos, intelligent, phantastisch und von funkensprühender Schreiblust: 113 atemlose Seiten zwischen Horrortrip und neuen Bewusstseinssphären.
Amélie Nothomb
Winterreise
Originaltitel: Le voyage d´hiver, Éditions Albin Michel
Übersetzt aus dem Französischen von Brigitte Große
Diogenes Verlag, erschienen Januar 2011
Hardcover, 113 Seiten
ISBN-13: 978-3257067781
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