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Beitrag vom 14.05.2011
Marie NDiaye - Selbstporträt in Grün
Sonja Baude
Magie und Rätselhaftigkeit bestimmen diesen Roman. Zuweilen wider die Vernunft erfindet und findet NDiaye Geschichten, in denen sie die Weiten unseres Bewusstseins sehr genau betrachtet.
Mit dem Roman "Drei starke Frauen", für den die französische Autorin 2010 gemeinsam mit der Übersetzerin Claudia Kalscheuer den Internationalen Literaturpreis erhielt, ist Marie NDiaye auch in Deutschland einem großen Publikum bekannt geworden. Die Suhrkamp Bibliothek legte im April 2011 "Mein Herz in der Enge" neu auf und bei Arche wurde nun ihr im Jahr 2005 im Original erschienener Roman "Selbstporträt in Grün" in deutscher Übersetzung vorgelegt.
Eine Handlung lässt sich nicht ausmachen, vielmehr ist dieser Roman eine Gedankenbewegung, getragen von Rätseln und magischen Momenten. Eine beständige Größe sind "Frauen in Grün", denen die Ich-Erzählerin in verschiedenen Lebensmomenten begegnet. Ob es sich um reale Personen oder fiktionale Figuren handeln mag, ist nicht eindeutig auszumachen, zweifellos aber ist die Wahrnehmung dieser Frauen sehr echt. Und damit ist das Wesentliche dieses Romans erwähnt. Wir sehen uns der Gleichzeitigkeit von Realem und Fiktionalem gegenüber: beide sind verschiedene Schichten einer Wirklichkeit.
Die Fragwürdigkeit dessen, was als gesichert gilt, durchzieht sich von Seite zu Seite. Da heißt es zu Beginn über die Hochwassergefahr der Garonne, eines "vom Wesen her weiblich[en]" Flusses im Südwesten Frankreichs, gelegen an grünen Ufern: "Das wissen wir [...] Was wir an diesem Abend nicht wissen, ist, wie es diese Nacht, wie es morgen weitergehen wird". Die Autorin schreibt hier vom Wasserstand, aber sie schreibt damit auch vom eigenen Seinsstand. Was können wir wissen? Wie entstehen Gewissheiten über Gegenwart und Vergangenheit, was sehen wir und wie sehr ist das, was wir zu sehen meinen und auch wie wir andere ansehen, immer zugleich ein Teil unseres Selbst? Um diese Fragen kreist der vorliegende Roman mit einer verstörenden Dringlichkeit und zugleich wunderbaren Leichtigkeit, wobei die Ich-Erzählerin, ebenso wie ihre beobachteten Frauenfiguren, immer wieder Gefahr laufen, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Das Wasser, das jederzeit über die Ufer zu steigen droht, ist Metapher dieser Bodenlosigkeit.
Im Selbstporträt begegnen wir verschiedenen Frauen in Grün. Was hat es auf sich mit dieser Farbe? Grün gilt der Ich-Erzählerin als Sinnbild für Anfechtung bis hin zur Hinterhältigkeit, gleichwohl sie eingesteht, dass "Grün nicht die einzige Farbe der Bosheit sein" kann. Der Titel legt es nahe, aber er bietet keine Gewissheit darüber, ob Erzählerin und Autorin in einer Person übereinstimmen. Das ist Teil ihrer Kunst: wir selbst beginnen, nicht mehr unterscheiden zu können, wo die Grenzen von Realem und Ausgedachtem verlaufen. Die Kapitel sind überschrieben mit sehr genauen Zeitangaben. Im Dezember 2003 wird die Geschichte in Gang gesetzt. Dann springen wir ein Jahr zurück und noch einmal in den März 2001. Diese Daten erscheinen als Realitätsgaranten. Daneben wird noch etwas anderes, im ersten Moment lesbar als Agenten der Wirklichkeit, ins Werk gesetzt: Hier und dort fügt NDiaye Fotografien, oft an der Grenze zur Unschärfe, als vermeintliche Zeugnisse und Belege in den Text. Die Fotografie verführt, in ihr das Spiegelbild vergangener Realität ablesen zu wollen, sie als Dokumentation der beschriebenen Geschehnisse anzuerkennen. Genau mit dieser Evidenzsuche spielt die Autorin. Die Fiktion des Geschriebenen und die Realität des Abgebildeten fügt sie so ineinander, dass wir einer Überblendung zweier Ebenen gegenüberstehen. Und gerade weil die Fotografien in "Selbstporträt in Grün" nicht unmittelbar als Bezugsmuster lesbar sind, weil sie keine Illustration des Gesagten darstellen, sondern eigenständige rätselhafte Bedeutungsträger sind, weiten sie unseren Wahrnehmungsraum.
Die Frauen in Grün sind Wesen, die im Leben der Ich-Erzählerin - vermeintlich am Rande der eigenen Lebensgeschichte - immer wieder auftauchen, vielleicht als Mitspielerinnen des Unbewussten. Diese Begegnungen, die im ersten Augenblick unaufgeregt, wie Nebengeschichten erzählt werden, bekommen eine existenzielle und oft bedrohliche Bedeutung. Sie geben den Anstoß, mit größter Aufmerksamkeit Menschen in sehr scharfen Momentaufnahmen zu beleuchten. Vielleicht sind all diese Frauen Chimären, Spielarten auch der eigenen Persönlichkeit, die zuweilen mit Befremden an sich selbst wahrzunehmen sind, bei sehr genauer Beobachtung. Die Erzählerin ist diese genaue Beobachterin. Sie selbst bekommt weniger aufgrund ihrer eigenen Lebensumstände, als vielmehr dadurch Gestalt, wie sie über andere denkt, wie sie die Welt außerhalb und innerhalb ihrer selbst wahrnimmt. Dadurch rückt sie selbst in eigenartige Nähe zu den LeserInnen, ohne je ganz greifbar zu werden, eine Reflektorin der oft auch trostlosen und traurigen Ausformungen des menschlichen Seins.
Die Frauen in Grün sind gleichsam Bild eines verborgenen Rätsels, letztendlich vielleicht selbst nur "reine Allegorie einer grünen Frau", sei es als einstmals beste Freundin, als eigene Mutter oder eben als Fluss, der bedrohlich sich auszudehnen vermag. Ihnen gemein scheint, "unberührbar, enttäuschend, zu unendlichen Metamorphosen fähig", zu sein. Aber auch wenn sie größte Anfechtungen für das eigene Leben bieten, sind diese Frauen der Ich-Erzählerin lebensnotwendig, "ohne die [ihr] die Rauheit des Lebens Haut und Fleisch abschürfen würde bis auf den Knochen." Und obwohl Verdruss, Niedertracht und Ausweglosigkeit in all diesen Begegnungen liegt, ist ihre Anerkennung doch auch eine Möglichkeit, einen Umgang mit eben jener Rauheit des Lebens zu finden, ohne die eigene Würde einzubüßen.
AVIVA-Tipp: Marie NDiaye fügt in wunderbar poetischer Sprache Wahrnehmung, Erinnerung, Vergewisserungen und Selbstvergewisserung zu einem höchst fragilen Bewusstseinskosmos. Dabei gelingt es ihr, Schichten unseres Wirklichkeitssinns aufzudecken und nimmt uns mit auf eine Reise des genauen Sehens.
Zur Autorin: Marie NDiaye wurde 1967 als Tochter einer französischen Mutter und eines senegalesischen Vaters in Pithiviers bei Orléans geboren. Im Alter von 17 Jahren veröffentlichte sie ihren ersten Roman. Seitdem schrieb sie eine Vielzahl weiterer Romane und Theaterstücke. Seit 2007 lebt sie mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Berlin, wohin sie aus Protest gegen die Politik von Nicolas Sarkozy umsiedelte. Für den Roman "Drei starke Frauen" wurde sie 2009 mit dem Prix Goncourt, dem wichtigsten französischen Literaturpreis und 2010 mit dem Internationalen Literaturpreis ausgezeichnet.
Zur Übersetzerin: Claudia Kalscheuer wurde 1964 geboren und lebt heute zwischen Berlin und Arles. Seit 1995 übersetzt sie Literatur aus dem Französischen, u. a. Werke von Alexander von Humboldt, Véronique Ovaldé, Marcelle Sauvageot, Jules Verne, Irène Némirovsky und Gabrielle Wittkop. 2002 wurde sie mit dem André-Gide-Preis ausgezeichnet und 2010 für die Übersetzung von "Drei starke Frauen" mit dem Internationalen Literaturpreis.
Marie NDiaye
Selbstporträt in Grün
Originaltitel: Autoportrait en vert
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer
ARCHE Literatur Verlag, erschienen 18.04.2011
128 Seiten
ISBN 13: 978-3-7160-2661-8
18,00 Euro
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