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Beitrag vom 11.07.2011
Tabandeh Moghadam - Weibliche Sexualität im Spannungsfeld von Islamisierung und westlicher Moderne
Nasrin Amirsedghi
Liebe, Sexualität, Körper und erotische Träume der Frauen im Iran sind genau so verschleiert wie ihr geheimnisvolles Wesen. Aber nicht mehr in der Migration: Vier Frauen enthüllen dieses Geheimnis.
Die über 2500 Jahre alte Geschichte Irans nimmt uns mit auf eine Achterbahn voller Höhen und Tiefen, Schattierungen und Widersprüche und lässt uns halsbrecherisch hängen zwischen Rückständigkeit und Modernität: ein krankes Land am Kaspischen Meer.
1979 marschierte mit einem Bündnis von Intellektuellen, StudentInnen, Technokraten unter Führung des Klerus der Traum von der Freiheit in Richtung des zivilisatorischen Rückwärts ab. Das kranke Land wurde noch kränker. Die fanatische "Islamisierung" schreitet voran: Das Gesetz Allahs als Verfassung sichert nun dem Volk die Ungleichheit vor dem himmlischen Gesetz. Das Volk wird mit aller Brutalität resozialisiert. Zuallererst wird "die Frau" entrechtet, entleibt und verhüllt. Das Verborgene kehrt sich nun unter islamischem Diktat nach außen oder umgekehrt. Jede Kontaktaufnahme zwischen den Geschlechtern ist streng sterilisiert. Alles, auch das "Liebesleben", muss nun offengelegt werden, aber doch "geheim" bleiben, damit "sich der islamische Staat in seiner Ordnung und Macht nicht bedroht sieht".
Liebe, Sexualität, Körper und erotische Träume der Frauen im Iran sind genau so verschleiert wie ihr geheimnisvolles Wesen. Wie sie im Laufe des Islamisierungsprozesses seit 1979 damit umgehen, welche Handlungsstrategie sie bilden, wie sie ihr Liebesleben ausleben, wie sie sich selbst wahrnehmen und wie sie die Diskrepanz zwischen Tradition und Modernität erfahren, das sind die zentralen Fragen einer neuen wissenschaftlichen Studie mit dem Titel "Weibliche Sexualität im Spannungsfeld von Islamisierung und westlicher Moderne" von Tabandeh Moghadam. Sie bezeichnet den iranischen Aufstand des Jahres 1979 als "islamisierte Revolution" mit dem Ziel, als Modell islamischer Identität einen Gegenpol zum westlichen Sittenverfall zu etablieren, ein Modell, dem jede Scheu fehlt, immer und nach Bedarf "die Frauen" zum Zweck dieser Zielerreichung zu instrumentalisieren.
Mittels einer rekonstruktiven Analyse von Biographien werden vier Lebenswege aus einem Pool von ursprünglich fünfzehn befragten Frauen, geboren zwischen 1956 und 1982 (vor und nach der Revolution) und zu verschiedenen Zeiten in die Migration gegangen, in Anlehnung an eine der Soziologin (Prof. an der Georg-Augustin Universität Göttingen) Gabriele Rosenthal und anderen, Soziologe (Begründer der objektiven Hermeneutik) Ulrich Oevermann, entwickelte Methode hermeneutisch ausgewertet. Durch den Einbezug von "biographischer Einsicht beziehungsweise Einbettung der Sozialisation in den gesamten Lebenslauf" werden "über das Individuelle hinaus" die "historischen und gesellschaftlichen Prozesse" sowie die Wechselwirkung "gesellschaftlicher und islamisch-fundamentalistischer Körperkonzepte auf die körperlich-leibliche Erfahrung" der Frauen erforscht. Darüber hinaus analysiert die Autorin die soziale Wirklichkeit aus dem Blickwinkel der Befragten.
Nach dem üblichen Teil über Theorie und Methodik der Arbeit und nach einem sozio-historischen Rückblick auf den Iran und Islam sowie auf die Migration bekommen wir eine lebendige und überaus spannende Apperzeption von Lebenswegen ganz unterschiedlicher Frauen. Die Autorin enträtselt die geheimnisvolle "Genese der Sexualität" dieser Frauen und vergleicht die Mechanismen von "strukturellen Gemeinsamkeiten und Unterschieden". Dabei stehen folgende Diskurse im Fokus: "die individuellen Erfahrungen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen" und "das individuelle Erleben und die biographische Bedeutung von Sexualität und Liebesleben" der befragten Frauen.
Es ist erstaunlich zu erfahren, wie sich diese Frauen trotz des erlebten moralischen, politischen, religiösen und soziokulturellen Druckes und der staatlichen Reglementierung weiter entwickelt haben, indem sie nicht resignierten und fähig blieben, sich immer wieder auf Neues einzulassen. So wie "Lili", die im Alter von 27 Jahren nach Deutschland einreiste und es geschafft hat, sich trotz ihrer traumatischen Erlebnisse zu entfalten und aktiv für sich Freiräume zu gestalten.
Trotz der großen Distanz zwischen der theoretischen und der konkreten Ebene der Arbeit gibt die Studie einen tiefen Einblick in Geschlechter- und Machtverhältnisse. Noch interessanter sind die Erkenntnisse über die Einblicke in das Leben der Frauen im heutigen real existierenden "islamisierten" Iran: In Folge der Einführung von Polygamie und Zeitehe wird der öffentliche Diskurs über Sexualität indiskret und direkt vom Staat geleitet. Es entstand parallel dazu auch eine Form der weiblichen Polyandrie. Mit der Einführung der Sharia wurde eben gerade sowohl die Promiskuität als auch die sexuelle Permissivität etabliert. Im Bereich der Sexualität herrschen chaotische, ja schizophrene Verhältnisse. Alle wissen Bescheid, trotzdem bleiben erotische und sexuelle Praktiken im Geheimen und werden verschleiert. Die Doppelmoral wurde Bestandteil des Systems und zum höchst fragwürdigen Modell islamischer Identität.
Zur Autorin: Tabandeh Moghadam wurde in Teheran/Iran geboren und lebt in Frankfurt am Main. Im Jahr 2008 promovierte sie an der FU Berlin als Soziologin. Sie forscht mit den Schwerpunkten Geschlechterstudien, Migrations- und Biographieforschung. Als systemische Beraterin befasst sie sich über viele Jahre in interkulturellen und psycho-sozialen Kontexten intensiv mit der Verzahnung von Gesellschaftsdynamik und biographisch -individuellen Dynamik. Sie arbeitet als Coach, Familienberaterin, Supervisorin.
AVIVA-Tipp: Kaum ein anderes Land im uns so fernen nahen Orient hat sich in jüngster Zeit so prekär zum Schlechteren verändert wie der Iran. Die anfängliche Hoffnung auf Freiheit, Demokratie und Menschenrechte musste bald nach der Etablierung der Sharia im Jahr 1979 begraben werden. Der Uhrzeiger der iranischen Geschichte ist seitdem in das siebte Jahrhundert zurückgedreht worden. Tabandeh Mogadam prägt in ihrem Buch den Begriff der "islamisierten Revolution" und analysiert, wie die Gesellschaft gerade dadurch ins historische Tief abgestürzt ist: "Die Unterdrückung eines mit Mühe erkämpften Pluralismus und einer Individualität, die ebenfalls als wesentliche Merkmale der Moderne und als eine Grundlage für demokratische Verhältnisse anzusehen sind, verweist zudem darauf, dass der anzustrebende soziale und politische Wandel für seine Etablierung demokratische Mechanismen benötigt, die in Iran noch fehlen."
Tabandeh Moghadam
Weibliche Sexualität im Spannungsfeld von Islamisierung und westlicher Moderne – eine rekonstruktive Analyse von Biographien iranischer Frauen in Deutschland
Verlag Dr. Kovac, erschienen 2010
347 Seiten
ISBN 978-3-8300-4838-1
Euro 78,00
www.verlagdrkovac.de
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