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Beitrag vom 14.07.2011
Ruth Johanna Benrath - Wimpern aus Gras
Britta Meyer
Anna ist neunzehn Jahre alt, als sie Reiko trifft, er Ende dreißig. Sie heiratet ihn, bricht ihr Studium ab, und zieht zu ihm in die USA. Der Kontakt zu ihren Eltern und ihrer engsten Freundin...
... Rena bricht nach und nach ab. Eines Tages jedoch trifft ein Paket mit Annas Tagebuch und ihrer Todesanzeige bei Rena ein.
Rena will wissen, was mit ihrer ältesten Freundin passiert ist und beginnt, ihre Aufzeichnungen zu lesen. Annas Leben vor der Begegnung mit Reiko tritt völlig in den Hintergrund, nur manchmal schimmert eine Erinnerung zwischen den Zeilen hervor. Reiko scheint ihr Leben erst erträglich gemacht, ihr ein Ziel und einen Sinn gegeben zu haben. "Du hast es geschafft", denkt Rena in Annas Richtung. Es geschafft, den Mann ihres Lebens zu finden und von ihm geheiratet zu werden. Das Glück sollte perfekt sein, oder? Reiko und Anna sind überzeugt davon. So überzeugt, dass sie beide nicht merken, dass sie einander kaum kennen. Erst auf deutsch, später mehr und mehr auf englisch erzählen Annas Einträge davon, wie sie immer verzweifelter versucht hat, Mrs. Ankenman zu sein.
Annas Briefe an Rena sind zum Schluss abweisend geworden, sogar verletzend. Nichts wollte sie mehr mit ihrer Heimat und allen Menschen darin gemein haben. Renas Beziehungen dagegen sind kurz und unromantisch – wenn sie von ihren Partnern nicht akzeptiert wird, dann geht sie eben. Rena ist auch die Erste, die Reiko mit der Möglichkeit konfrontiert, dass Anna nicht glücklich gewesen ist. Während alle Welt das Paar auch nach Annas Tod als den Inbegriff des romantischen Glücks zu sehen scheint, bleibt Rena die einzige, die die Frage stellt, was eigentlich schiefgelaufen ist.
"Perfect love, wiederholt sie, was ist das? Reikos Stimme ist kaum hörbar. To give everything up for the man you love."
Eine Liebe, die ihre Größe daran misst, was für sie aufgegeben wird: Eltern, FreundInnen, Karriere, Heimat, sich selbst. Völliges Verschwinden im Anderen. Bei Anna, die ihren eigenen Körper bis zur Magersucht hin aus ihrer Wahrnehmung ausblendet, fragt die Leserin sich ohnehin, ob sie nicht Liebe mit Angenommensein verwechselt hat. Wenn Reiko sie heiraten will, dann ist sie würdig, auserwählt, endlich eine Person zu sein, auch wenn diese Person sich nur über einen anderen definiert. Zwischen Annas Tagebuchschnipseln, Renas Gedanken und Reikos Perspektive wechselnd beschreibt Ruth Johanna Benrath, wie eine junge Frau sich aufgibt, um jemand zu sein.
AVIVA-Tipp: Das vollkommene Glück zu finden, indem frau sich völlig in einer Beziehung zu einem Mann auflöst – es fällt nicht leicht, Anna dabei zuzusehen, wie sie einer solch antiquierten Vorstellung hinterher läuft. Hatte sie denn keine anderen Träume für ihr Leben? Der Leserin wird nur langsam und in kleinen Häppchen verraten, warum sie eigentlich tot ist. Was ist passiert? War sie krank, war es ein Unfall, hat der manchmal an einen Blaubart wider Willen erinnernde Reiko sie womöglich umgebracht? Die Geschichte kommt angenehmerweise ohne dramatische Enthüllungen aus, sondern erzählt ruhig und distanziert von einer Frau, die sich selbst so wenig erträgt, dass sie immer mehr aus der Welt verschwindet.
Zur Autorin: Ruth Johanna Benrath, geboren 1966 in Heidelberg, studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte und arbeitete als Lehrerin und als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Freien Universität Berlin. Ihr Lyrikband "Kehllaute" erschien 2007, zwei Jahre später folgte der Roman "Rosa Gott, wir loben dich". Für ihre literarischen Arbeiten erhielt sie mehrere Auszeichnungen u.a. ein Arbeitsstipendium des Berliner Senats, das Döblin-Stipendium der Akademie der Künste, das H.C.Artmann Stipendium der Stadt Salzburg und den Frau Ava-Preis 2011.
Ruth Johanna Benrath
Wimpern aus Gras
Suhrkamp/Insel Verlag, erschienen am 25. Mai 2011
217 Seiten
ISBN 978-3-518-462-690
13,95,- Euro
Weitere Informationen finden Sie unter:
www.suhrkamp.de