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Beitrag vom 26.01.2012
Julia Franck - Rücken an Rücken
Sonja Baude
Wieder hat die Autorin der preisgekürten "Mittagsfrau" eine Familiengeschichte geschrieben - eine realitätsferne Fabel, in der zwei Kinder am DDR-Staat und seinen willigen Vollstreckern scheitern.
Ella und Thomas heißen die Kinder von Käthe, einer linientreuen Bildhauerin, die in einem großen Haus mit Tabaksaal nah des Müggelsees in Ostberlin um die Zeit des Mauerbaus lebt. Sie entstammt einer vormals großbürgerlichen Familie, hat sich aber nun ganz dem SED-Staat verschrieben. Es ist wieder eine Familiengeschichte, die Julia Franck erzählt. Auch diesmal spielen autobiographische Bezüge eine Rolle. Die Figur der Käthe ist angelehnt an die Großmutter der Autorin, Ingeborg Hunzinger, angesehene Künstlerin in der DDR.
Allein dem Staat gilt Käthes Sorge, die Kinder aber werden emotional sich selbst überlassen und nicht einmal mit einem Hauch von Mutterliebe bedacht. In dem Moment, da der Roman einsetzt, sind die Geschwister neun und zehn Jahre alt und sie kämpfen mit allen Kräften darum, von ihrer Mutter wahrgenommen zu werden. Dafür verlassen sie augenblicksweise ihr Kindsein, etwa dann, wenn sie am Ende einer zweiwöchigen Aushäusigkeit der Mutter die Zimmer bis in die letzten Ecken schrubben, kochen und mit, ja fast elterlicher, Fürsorge die Rückkehr der Mutter vorbereiten. Käthe aber merkt von alldem nichts und schenkt allein dem Hund einen Moment zärtlicher Aufmerksamkeit. Die Kinder aber werden mit Strenge und Kälte bedacht. Rücken an Rücken versuchen Ella und Thomas, sich tapfer gegenseitig über die ständige Abwesenheit der Mutter hinwegzutrösten. Selbstredend sind sie diesen Rollen nicht gewachsen.
Das Kollektiv ist alles, was zählt. Es gilt, die vorgeschriebenen Haltungen einzunehmen, so wie sie Käthe dann für immer in Stein schlägt. Darin hat jedoch der - je verschiedene - große Schmerz ihrer Kinder keinen Platz. Während sich bei Ella eine fortschreitende Verstörung manifestiert, der sie träumerisch zu flüchten sucht, leistet der heranwachsende Thomas kraft seiner Poesie Widerstand gegen ein Leben, das ihn seiner Freiheit beraubt. Aus dem Nachtext ist zu erfahren, dass Thomas´ unbeholfene Verse, die in der zweiten Romanhälfte viel, womöglich zu viel in den Text eingewoben sind, aus dem Nachlass von Gottlieb Friedrich Franck, dem Onkel der Autorin, stammen. Wie dieser Onkel, so nimmt sich am Ende des Romans auch Thomas, mittlerweile 18jährig, das Leben - als ultimatives Aufbegehren gegen seine Mutter und gegen einen Staat, in dem die Einzelnen nicht zählen und Andersdenkende ein Höchstmaß an Demütigung erfahren.
Eine Aneinanderreihung des Schreckens ist dieser Roman. Nicht genug, dass die Mutter fühllos ist, auch sämtliche andere Figuren vergehen sich in übelster Weise an dem Geschwisterpaar. Ella wird von allen Männern, die im Hause weilen, sexuell missbraucht, zuerst von Eduard, dem Vater der Halbgeschwister, die bei Pflegeeltern aufwachsen, dann vom Untermieter, der sich bald als Stasispitzel und verlängerter Arm des Systems entpuppt und so das Mädchen zum Schweigen zwingt. Thomas weiß von den Vergehen an der Schwester, ist hilflos und kann sich seinerseits der übermächtigen Mutter nicht entziehen, der er allzeit Modell stehen muss. Später wird auch er ein Missbrauchsopfer anderer Art, wenn er im Steinbruch im Dienste des Arbeiterstaates sein Soll erfüllt. Dann tritt noch Marie auf, eine engelsgleiche Gestalt, der sich Thomas für immer verschreibt. Auch sie ist Opfer, Opfer der sexuellen Gewaltfantasien ihres Ehemannes. Ein weit gefächertes Personal wird in dieser DDR-Geschichte der 50er und 60er aufgerufen und es ist wahrlich ein regelrechtes Gruselkabinett, das Julia Franck ins Leben setzt, in dem letztendlich aber sämtliche Figuren immer mehr zu Schablonen verblassen und ihre Wahrhaftigkeit einbüßen.
AVIVA-Fazit: Indem Julia Franck zu Beginn ihres Romans sehr überzeugend und konsequent die permanente Abwesenheit einer Mutter schildert und die Not der Kinder glaub- und fühlbar seziert, verspricht die Geschichte reale Tiefenschärfe zu gewinnen. Sie wird dann aber schnell zugunsten eines überinszenierten Panoptikums aufgegeben, das schließlich zum Klischee verkommt und keinen Raum lässt für echte Charaktere mit echten Lebensentwürfen in einem echten Land.
Zur Autorin: Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Germanistik an der FU Berlin. Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Zuletzt erschienen von ihr "Lagerfeuer" (2003) und "Die Mittagsfrau" (2007).Sie wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Neben anderen erhielt sie 2004 den Marie Luise Kaschnitz Preis, 2005 den "Roswitha Preis" der Stadt Bad Gandersheim und 2007 den Deutschen Buchpreis. (Verlagsinformationen)
Weitere Infos unter: www.juliafranck.de
Julia Franck
Rücken an Rücken
Fischer, erschienen 2011
Gebunden, 380 Seiten
ISBN 978-3-10-022605-1
19,95 Euro
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"Die Mittagsfrau" von Julia Franck