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Beitrag vom 13.01.2011
Martha C. Nussbaum - Die Grenzen der Gerechtigkeit. Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit
Tatjana Zilg
Gerechtigkeit ist ein Anliegen, welchem in der postmodernen Gesellschaft wichtige Priorität zugestanden wird, doch wird dies in der Ausführung oft gegen andere Interessen wie den hohen Kosten …
... für eine lückenlose Inklusion aller behinderten Menschen abgewogen.
Spätestens seit der Unterzeichnung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch Deutschland am 26. März 2009 kann der inklusive Gedanke zwar als Rechtsanspruch angesehen werden, aber in der Praxis müssen die Betroffenen oft lange Zeit um ihr Recht kämpfen. Nicht selten wird von vornherein durch Institutionen versucht, auf herkömmliche Maßnahmen zurückzugreifen, da ein inklusives Vorgehen nicht möglich sei.
Zwei wichtige Bereiche, wo sich dies zeigt, sind die Integration von schwerbehinderten Kindern an Regelschulen und die Antragsstellung eines Persönlichen Budgets von behinderten Erwachsenen anstelle von pauschalisierten Leistungen. In beiden Fällen wird häufig viel Energie und Geduld benötigt, bis von den Behörden ein positiver Bescheid kommt, da sich die Kostenfrage dazwischen drängt. Der Einsatz von Einzelfall-SchulhelferInnen oder die eigene Wohnung mit individueller Schichtbetreuung ist eine nicht unerhebliche Belastung für die zuständigen Stellen, doch die Lebenszufriedenheit der Betroffenen erhöht sich dadurch oft immens.
Es bleibt die Frage, warum erst 2006 am Sitz der Vereinten Nationen in New York eine Konvention zur Sicherung eines Lebens in Menschenwürde für behinderte Menschen verabschiedet wurde. Noch vor wenigen Jahrzehnten kam es für behinderte Menschen oft eher zum schnellen Ausschluss, als dass der Einzelfall genau abgewogen wurde. Heute ersetzen unter anderem Integrationsunternehmen allmählich die herkömmlichen Werkstätten für behinderte Menschen.
Die subjektiven Sichtweisen von Nicht-Betroffenen mögen auf der Seite der BefürworterInnen oder auf der Seite der skeptischen KostenabwägerInnen zu finden seien, immer wird mit dem bedeutungsvollen Begriff der Gerechtigkeit argumentiert.
Gerechtigkeit - ein bedeutungsvoller, kontrovers diskutierter Begriff
Aber woraus leitet sich eigentlich das gesellschaftliche Gerechtigkeitsempfinden ab und warum gelingt es, mit Gerechtigkeit jeweils unterschiedliche Sichtweisen zu begründen?
Die an der Universität von Chicago lehrende Rechts- und Sozialphilosophin Martha C. Nussbaum führt ihre LeserInnen zu den Ursprüngen philosophischer Überlegungen zur Gerechtigkeit politischer Prinzipien und entwickelt hieraus, teils auch in Analyse von Defiziten im Bezug auf ihre für dieses Buch gewählten drei Problemstellungen, ihren eigenen Entwurf des Fähigkeitenansatzes (englisch: "capability approach") als Grundlage einer gerechten Gesellschaft.
Neben dem Problemfeld einer umfassenden Integration von geistig behinderten Menschen in die Gesellschaft lenkt sie das Augenmerk auf Fragen nach den Unterschieden von Lebenschancen aufgrund nationaler Zugehörigkeit und nach einem nicht ausschließlich auf die Nutzung orientierten Umgang mit Tieren. Beides sind ebenfalls Themen von brisanter Aktualität, wenn frau bedenkt, wie Europas Grenzen mittlerweile durch das umstrittene "Frontex" gesichert werden oder welch erschreckenden Einblick in die Massentierhaltung der Dioxin-Skandal gegeben hat.
Die "Vertragstheorie"
Ein viel beachteter Beitrag der Philosophie zur Gerechtigkeitsfrage ist die "Vertragstheorie", als deren historische Begründer Locke, Rousseau und Kant gelten können. Eine wesentliche Weiterentwicklung erfuhr diese Theorie im 20. Jahrhundert durch John Rawl ("Theorie der Gerechtigkeit").
Ihr Kern liegt in dem Vorschlag, sich grundlegende politische Prinzipien als Ergebnis eines ursprünglichen "Gesellschaftsvertrags" vorzustellen. Damit soll der Beweis erbracht werden, dass eine politische Gesellschaft, in der alle ihre eigene Macht zugunsten des Rechts und einer rechtmäßig konstituierten Autorität aufgeben, tatsächlich im Interesse der Menschen liegt. Zur Zeit ihrer Begründung wurde dadurch eine rational geführte Kritik gegen die Tradition des Feudalismus und des Monarchismus möglich.
Ausschluss von als "Schwächeren" angesehenen Menschen
Die Philosophen stellten sich vor, wie die Menschen in einem vorpolitischen Raum entscheiden würden, wenn sie sich zum Zwecke gegenseitiger Kooperation und Reziprozität zusammenschließen würden. Dabei wurde davon ausgegangen, dass dies ein natürliches Interesse der Menschen sei, solange jeder Einzelne annehmen kann, dadurch einen Vorteil zu erlangen. Zudem müssten in dieser Ausgangssituation alle gleich seien und der Einzelne keine Kenntnis davon haben, welche soziale Position er zukünftig inne haben wird.
Ein schwerwiegender Nachteil ist, dass Frauen als Teil des Verhandlungsprozesses unberücksichtigt blieben. Sie wurden genau wie behinderte Menschen als grundsätzlich Schwächere und damit Ungleiche angesehen. Nussbaum führt diesen Aspekt zum Teil auch in "Die Grenzen der Gerechtigkeit" aus, ging aber ausführlich auf die Implikationen dieser Vorannahme bereits in ihrem vorangegangenen Werk "Women And Human Development" ein. Dabei stellte sie auch die lang andauernde Verschiebung der Familie aus dem politischen Raum in die Privatsphäre heraus, wodurch unter anderem bestimmte Straftaten innerhalb der Familie nicht verfolgt werden konnten.
Nussbaum erwägt ausführlich, was die benannten Philosophen bewegt haben könnte, aus ihrer Forderung nach Gerechtigkeit bestimmte Gruppen auszuschließen, und formuliert als Hauptmotiv, dass der gegenseitige Vorteil hier als nicht gegeben erachtet wurde. Sie bringt dies mit dem Utilarismus in Verbindung, einem ökonomischen Modell, welches den Gesamtnutzen gesellschaftlichen Handelns über das Wohl der/des Einzelnen stellt. Dass dies im Detail eher zu ungerechten Verhältnissen führen kann, liegt auf der Hand und ist ein Grund dafür, warum mittlerweile das "Bruttosozialprodukt (Bruttonationaleinkommen)" kaum noch als Indikator für den Wohlstand einer Gesellschaft gelten kann. In Ländern, wo die Schere zwischen Arm und Reich groß ist, verdeckt es beispielsweise eine hohe Armutsquote mit allen Folgeerscheinungen wie Kriminalitätsanstieg, Mangelernährung und unsichere Beschäftigungsverhältnisse. So trifft hier die Annahme der "Vertragstheorie", die besagt, dass die gesellschaftliche Zusammenarbeit allen ein besseres Leben ermögliche, als wenn sie nur auf ihre eigenen Anstrengungen angewiesen wären, nur noch bedingt zu.
Menschenwürde als oberstes Gerechtigkeitsprinzip
Als zeitgemäße Erweiterung schlägt Nussbaum ein Umdenken vor, durch das die Bedürfnisse und Entwicklungsmöglichkeiten eines jeden zukünftigen Gesellschaftsmitglieds mehr in den Vordergrund gerückt werden. In ihrem Fähigkeitenansatz beschreibt sie zehn Fähigkeitenbereiche, die sie als unabdingbar für ein Leben in Menschenwürde erachtet. Diese sollten von allen Regierungen als absolutes Minimum umgesetzt werden. Dadurch wird ein Gerechtigkeitsmodell beschrieben, das sich darauf bezieht, was die Menschen tatsächlich zu tun und zu sein in der Lage sind.
Da sie in ihrem Diskurs all die Begrenzungen aufzeigt, die dem in der Gegenwart entgegenstehen, ist ihr Fazit, dass eine Weiterentwicklung der Bildungssysteme notwendig sei. Die Förderung und Wertschätzung von Gefühlen wie Mitleid, Anteilnahme sowie Empathie für Schwächere sollen dabei eine wichtige Rolle erhalten.
AVIVA-Tipp: Die philosophischen Theorien, ihre unterschiedlichen Auslegungen und ihre eigenen Thesen beschreibt Nussbaum ausführlich, gut verständlich und durch die vielen Fallbeispiele ab dem zweiten Kapitel leicht nachvollziehbar. Die Dicke und Dichte des Buches mag beim ersten Durchblättern abschreckend wirken, doch eine Lektüre lohnt sich nicht nur für akademisch an dem Themenbereich Interessierte, denn sie ermöglicht ein grundlegendes Verständnis der philosophischen Hintergründe der aktuellen Diskussionen über soziale Gerechtigkeit. Dadurch kann die eigene Position anschließend bewusster und präziser formuliert werden und populistischen Auffassungen durch die schnelle Entschwächung eindimensionaler Argumentationslinien entgegengesteuert werden.
Zur Autorin: Martha C. Nussbaum ist Philosophin und Professorin für Rechtswissenschaft und Ethik an der Universität von Chicago und lehrte an zahlreichen Universitäten in Nordamerika und Europa. Sie ist Mitglied der American Philosophical Association und der American Academy of Arts and Sciences. Für ihr Werk wurde sie mit über dreißig Ehrendoktorwürden ausgezeichnet. 2009 erhielt sie mit dem vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) verliehenen A.SK Social Science Award einen der weltweit höchstdotierten Preise für Sozialwissenschaften.
Martha C. Nussbaum
Die Grenzen der Gerechtigkeit - Behinderung, Nationalität und Spezieszugehörigkeit
Originaltitel: Frontiers of Justice. Disability, Nationality, Species Membership
Übersetzt von Robin Celikates und Eva Engels
Gebunden, 599 Seiten
Suhrkamp, erschienen 2010
ISBN: 978-3-518-58554-2
36,90 Euro
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