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Beitrag vom 12.09.2010
Daphne Kalotay - Die Tänzerin im Schnee
Tatjana Zilg
Eine berühmte, ehemalige Ballerina erinnert sich an die tragischen Umstände ihrer Flucht aus dem Nachkriegs-Moskau während der Herrschaft des Stalin-Regimes, als sie, mittlerweile fast 80 Jahre …
... alt, ihre wertvolle Bernsteinsammlung zu Gunsten des Bostoner Balletts zur Auktion freigibt.
Die Autorin Daphne Kalotay schildert sensibel und bewegend das Durcheinander von Ereignissen und Emotionen, das eine solche Entscheidung umgibt, so dass nicht nur die politischen Beweggründe für den Weg ins Exil im Vordergrund stehen. Sie nimmt sich Zeit, unterschiedlichste Aspekte und Handlungsfäden einzubinden und den davon in ihren Charakteren ausgelösten Gefühlen eingehend nachzuspüren. Zugleich sorgt sie fast 500 Seiten lang für eine thrillerhafte Spannung, da vieles an unerwarteter Stelle in neuem Licht erscheint und einige Rätselhaftigkeiten die LeserInnen herausfordern.
Der Wert des Bernsteins im Bann der Vergangenheit
Zwei Haupthandlungsstränge werden gegenübergestellt: Die Kunsthistorikerin Drew Brooks bereitet die große Auktion einer Bernsteinsammlung vor. Während ihrer Gespräche mit der Primaballerina Nina Rewskaja irritiert sie deren distanziertes Verhalten und eine starke Abwehr, mehr über die einzelnen Schmuckstücke zu erzählen, obwohl sie diese Informationen dafür nutzen könnte, bessere Preise zu erzielen.
Die junge Frau um die 30 berühren die Vorbereitungen der Auktion auch auf einer persönlichen Ebene, denn ihre Familiengeschichte weist nach Russland, da ihr Großvater ebenfalls emigriert ist. Als dann noch der russische Literatur-Professor Grigori Solodin auftaucht und einen Bernsteinanhänger für die Auktion spendet, der offenkundig zu einem Set von Nina Rewskaja gehört, geraten lange verdrängte Geheimnisse an die Oberfläche und für alle Beteiligten verändert sich die Gegenwart durch die Erkundung der Vergangenheit.
Ausführlich wird in Rückblenden, die gleichwertig zum Erzählstrang in der Gegenwart stehen, den Fragen nachgegangen, die durch die Begegnung der drei HauptakteurInnen aufgeworfen werden.
Nina kommt aus ärmlichen Verhältnissen und schafft es aufgrund ihres Talents, als Kind in die staatliche Ballettschule aufgenommen zu werden. Als Ballerina am Staatsballett wird sie Teil der künstlerischen Bohème in Moskau, welche zunehmend durch die Diktatur repressiert wird. Sie heiratet den Poeten Viktor Elsin, der aufgrund seiner Herkunft aus einer Adelsfamilie vom Regime grundsätzlich misstrauisch beäugt wird. In dem gemeinsam bewohnten Zimmer, das nur durch eine Trennwand geteilt wird, macht dessen Mutter, die durch den Statusverlust exzentrisch geworden ist, Nina das Leben auf subtile Art schwer. Eine hinterlistige Heimtücke der Stiefmutter löst einen Ereignisstrudel aus, der Nina das Vertrauen in ihre Freundesclique verlieren lässt, so dass der einzige Halt wegfällt, den sie in dem rigiden System hatte.
In der zunehmenden Zerrissenheit innerhalb ihrer sozialen Bezüge spiegeln sich die Auswirkungen der stalinistischen Diktatur auf das Alltagsleben als auch der fortbestehende Antisemitismus in Russland wider, denn ein mit Nina und Viktor befreundeter jüdischer Schriftsteller wird inhaftiert, ohne dass je herausgefunden werden kann, für welche Tat er bestraft werden sollte.
Dem Roman ging eine umfangreiche Recherche der Autorin voraus, inspiriert durch die eigene Familiengeschichte. Ihr Vater und ihre Großmutter überlebten die Shoah in Ungarn und wurden zu ZeitzeugInnen der frühen Jahre der dortigen russischen Besetzung. 1956 emigrierte ihr Vater nach Kanada und zog später weiter nach Amerika, wo er im Bundesstaat New Jersey Daphne Kalotays Mutter, eine Tänzerin und Tanz-Dozentin an der Drew University, heiratete.
"I decided to make the old woman Russian, and as I wrote she became a version of my Hungarian grandmother, who along with my father survived both the Holocaust and the early years of Russian occupation before escaping to Canada. Though they left Hungary in 1956, many of my relatives remained there, and I´ve seen up close how life under the weight of totalitarianism influenced both those relatives who left and those who stayed—from individual mentality to interpersonal relationships", erzählt Daphne Kalotay über den Entstehungsprozesses des Buches. (Quelle: Literaturagentur Fritz)
Ein W. K. Rose Fellowship (ein Stipendienprogramm des Vassar Colleges) ermöglichte es ihr, sich vor dem Schreiben des Romans intensiv in die Geschichte und die Kultur der Sowjetunion bzw. Russlands und in das Ballettwesen zu vertiefen. Insgesamt konnte der Roman so innerhalb von sechs Jahren seine Gestalt annehmen, wodurch eine hohe Präzision und große Lebendigkeit erreicht wurde.
AVIVA-Tipp: Sensibel und eindrücklich blickt die Vielfach-Stipendiatin in die Seelen ihrer ProtagonistInnen und beschreibt zugleich detailliert und hervorragend recherchiert die zeitgeschichtlichen Kulissen. So integriert sie in ihrem Romandebüt psychologische Durchdringung genau wie die Verschmelzung von Fiktion und tatsächlichen Rahmenbedingungen im Nachkriegs-Moskau als auch des Alltags in verschiedenen Milieus des Amerika der Gegenwart.
Im Ergebnis bietet "Die Tänzerin im Schnee" den LeserInnen eine breite Palette an literarischem Genuss: Das lebendige Erlebnis von Geschichte, geballte Spannung bei der Verfolgung der sich stetig vermehrenden Geheimnisse sowie einiges an Romantik und Dramatisches in den Beziehungen zwischen den ProtagonistInnen.
Zur Autorin: Daphne Kalotay Daphne Kalotay studierte an der Universität in Boston Creative Writing. Sie promovierte in Literatur über das Werk von Mavis Gallant und unterrichtet seitdem selbst Creative Writing am Middleberry College, an der Boston University und am Skidmore College. Kalotay erhielt Stipendien von der Christopher Isherwood Foundation, Vassar, Yaddo und der McDowell Colony und lebt in der Nähe von Boston. 2005 erschien ihr vielgelobter Erzählband "Calamaty and Other Stories". Mit ihrem ersten Roman "Die Tänzerin im Schnee" kam sie unter die FinalistInnen im James Jones First Novel-Wettbewerb. "Die Tänzerin im Schnee" erscheint am 11. September 2010 zeitgleich in 16 Ländern. (Quelle: Verlagsinfo)
Weitere Informationen und Kontakt unter: www.daphnekalotay.com
Daphne Kalotay
Die Tänzerin im Schnee
Aus dem Amerikanischen von Carina Tessari und Yasemin Dincer
Gebunden mit Schutzumschlag, ca. 500 Seiten
Verlag: rütten und loening, erscheint am 11. September 2010
22,00 Euro
ISBN 978-3-352-00787-3