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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 16.11.2011


Inka Parei - Die Kältezentrale
Tatjana Zilg

Ihr Roman "Was Dunkelheit war" wurde mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet. Nun erkundet die Autorin, wie ein um die 40 Jahre alter Mann den ambivalenten Erinnerungen an seine ...




... Arbeiterzeit in der DDR nachspürt. Seine vordergründige Absicht ist es, dadurch eine Antwort auf die Frage zu finden, ob der Krebs seiner ersten Ehefrau durch eine frühere Verstrahlung verursacht sein könnte.

Hauptschauplatz der ausführlichen Rückblicke ist das Gebäude der Zeitung Neues Deutschland am Berliner Franz-Mehring-Platz. Der namenlos bleibende Ich-Erzähler begann nach seiner Schulzeit eine Lehre als Schlosser in der Kältezentrale, einem für die komplexen Klimaanlagen des Redaktions- und Druckbetrieb zuständigen Handwerkerteam. Eher ziellos traf er seine Entscheidung, dort sein Arbeiterleben im Arbeiter- und Bauernstaat zu beginnen. Die Autorin zeichnet ein graues, tristes Bild seines Daseins in der DDR. Der Ich-Erzähler konnte sich nicht für seinen Beruf begeistern und musste mit den Herabwürdigungen seiner eher grob strukturierten Kollegen kämpfen, die den Lehrling mal auf subtile, mal auf offensichtliche Art in eine niedrige Position drängten. Er versuchte kaum, sich aktiv dagegen zu wehren, und in der Leserin wächst die Vermutung, dass es dafür kaum eine Möglichkeit gegeben hätte, denn sein größter Demütiger war der unmittelbare Vorgesetzte Brandenburg.

Die Dinge veränderten sich erst für ihn, lange nachdem er seine Ausbildung abgeschlossen hatte und zum Facharbeiter aufgestiegen war. Als der neue Lehrling Hansmann seinen Dienst antrat, begegneten ihm seine Kollegen plötzlich mit Respekt und bezogen ihn als gleichwertiges Mitglied in ihre Gruppe ein.
Der Ich-Erzähler brach jedoch mit der heimlichen Tradition, Frustration durch Unterdrückung des schwächsten Gruppenmitglieds zu kompensieren, und beobachtete die Herabsetzungen mit zunehmender Verzweiflung.Dennoch gelang es ihm nur selten, sich offen zu seiner kritischen Haltung zu bekennen und Hansmann beizustehen. Auch als in ihm der Verdacht aufkeimte, dass Brandenburg beabsichtigte, Hansmanns Leben durch einen herbeigeführten Unfall zu riskieren, trug er dies nur in einem inneren Konflikt aus. Doch wurde dies letztlich für ihn zum Anlass, einen Ausreiseantrag in die BRD zu stellen, da schon bald die Ereignisse in der Kältezentrale eskalieren sollten.

Als Gegenwart innerhalb ihrer fiktiven Handlung verwendet die Autorin die Zeit, während der der Ich-Erzähler zwei Jahrzehnte nach der Wende einen Anruf seiner ersten Ehefrau Martha bekommt, die mit einer schweren Krebserkrankung in einem Berliner Krankenhaus liegt. Sie bittet ihn, nach Berlin zu kommen und zu klären, ob ein radioaktiv verstrahlter Lastwagen aus der Ukraine ihre Krankheit hervorgerufen haben könnte. Dieser wurde Mitte der 1980er kurzfristig auf dem Parkplatz des Neuen Deutschlands geparkt, wo auch Martha arbeitete.

In wie zufällig ineinander verschobenen Zeitebenen folgt die Leserin dem Ich-Erzähler bei dem Versuch einer Aufklärung der dunklen Stellen in seiner Erinnerung und beobachtet, wie er sich dabei immer mehr selbst verliert. Anstatt mehr Klarheit zu gewinnen, geraten seine subjektiven Erklärungsmuster für seine Übersiedlung in die BRD ins Wanken, die er vor sich selbst mit einem individuellen Drama und nicht mit der Ablehnung des diktatorischen Gesellschaftssystem begründet hat.

"Wie soll man die Zeit, in der man noch sehr jung war, begreifen, wenn die Bedingungen, unter denen man einmal gelebt hat, nur noch in der eigenen Erinnerung existieren? Wie entkommt man unter solchem Umständen dem Gefühl, dass es sich nicht um das frühere Leben handelt, sondern um ein ganz anderes? Und wer ist man mit einem auf diese Art fragmentierten Leben? Mit der messbaren Zeit, die man existiert, als einzig fassbarem Zusammenhang, dem eigenen Körper als einzigem Zeugen?"

AVIVA-Fazit: Die Grundidee des Romans spricht spontan an und macht Hoffnung auf eine aufschlussreiche Annäherung an die Frage, wie aus dem Zusammenwirken persönlich bedingter biografischer Brüche und diktatorischer Repressionen ausweglose Negativspiralen entstehen können.
Die "Kältezentrale" bietet die perfekte Bühne für eine grausame Art eines vom System gebilligten Mobbings und enthält als Mikrokosmos viele Metaphern für den gesamtgesellschaftlichen Prozess. Doch die Gesamtkonzeption des Romans enthält leider einige Schwächen. Alle ProtagonistInnen bleiben seltsam gesichtslos und das Erinnerungsmosaik der Hauptfigur setzt sich nur mühsam zusammen.

Zur Autorin: Inka Parei wurde 1967 in Frankfurt am Main geboren und lebt seit 1987 in Berlin. Ihr mit dem Hans Erich Nossack-Preis ausgezeichneter, erster Roman "Die Schattenboxerin" wurde in 13 Sprachen übersetzt. 2003 erhielt sie bei den Tagen der deutschsprachigen Literatur für den Anfang des Romans "Was Dunkelheit war" den Ingeborg-Bachmann-Preis sowie den Kelag-Publikumspreis. 2009 wurde sie mit dem Heinrich-Heine-Stipendium ausgezeichnet. (Quelle: Verlagsinfo)

Inka Parei
Die Kältezentrale

Schöffling und Co., erschienen August 2011
Gebunden, 216 Seiten
ISBN: 978-3-89561-107-0
19,95 Euro




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Beitrag vom 16.11.2011

AVIVA-Redaktion