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Beitrag vom 17.11.2002
Marge Piercy: Er, Sie und Es. Und immer lockt das Weib den Golem...
Kirsten Böttcher
Marge Piercy nutzt den jüdischen Golem-Mythos für ihre Vision eines Cyborg-Wesens: Was kann die Maschine, was Mann nicht kann?
Marge Piercy trägt sicherlich Siebenmeilenstiefel. Die Autorin von zahlreichen Lyrikbänden, Essays und immerhin 16 Romanen schreitet durch scheinbar unterschiedlichsten Zeiten und Raumdimensionen, um einen spannenden Handlungsteppich aus cyberfeministischer Theorie und jüdischem Golem-Mythos zu knüpfen.
Tikva - hebräisch für "Hoffnung"
Zwei Perspektiven wechseln sich kapitelweise ab. Die Cyberspace-Spezialistin Shira wird im Jahre 2059 gezwungen, die Erziehung ihres kleinen Sohnes Ari aufgrund fadenscheiniger Erklärungen ihrem Mann zu überlassen. Ihr Arbeitgeber Y-S, einer der 23 Multis, die sich die Welt untereinander aufgeteilt haben, versucht, sie mit allen Mitteln in ihre Grenzen zu weisen. Shira entschließt sich zum Widerstand: Sie reist nach Tikva, eine der wenigen, noch "Freien Städte". Dort leben ihre Freunde und ihre Großmutter Malkah, die Kraftquelle und Vertraute zugleich ist.
Malkah fungiert als zweite Erzählperspektive. Der Stil wechselt hier zu einem sehr persönlichen Klang: Malkah richtet direkt das Wort an den Cyborg Jod, den sie zusammen mit ihrem langjährigen Vertrauten und Ex-Geliebten Avram programmiert und konstruiert hat. Jod, der zum Schutz der "Freien Stadt" gebaut wurde, soll die Geschichte seiner Herkunft erfahren. Zum Schutz des bedrohten Prager Ghettos erweckte Rabbi Loew im 18 Jahrhundert den Golem aus Lehm zum Leben. Der Golem wurde in der talmudischen Aggadah, der Sammlung jüdischer Geschichten und Legenden, als etwas Ungeformtes und Unvollendetes definiert. Piercy führt beide Erzählstränge parallel, den Malkahs über die Erschaffung und Entwicklung des Golem, und den Shiras.
Wie soll ein Cyborg das Flirten lernen?
In Tikva angekommen, wird Shira von Avram mit der Sozialisierung des Cyborgs betraut. Auch er ist noch unvollständig und nicht "alltagstauglich". Shira arbeitet mit dem Cyborg zusammen, und fühlt sich immer mehr zu seiner wachsenden Persönlichkeit (auch sexuell) hingezogen. Dann trifft sie auch noch auf ihre erste große Liebe Gaddi, dem Atmo-Topdesigner für Stimmis.
Als die Multikonzerne das Geheimnis des Supercyborgs in Tikva lüften können, muß Shira mit Hilfe ihres neuen Partners, dem Cyborg, um ihren Sohn und letztendlich auch um den Erhalt der "Freien Stadt" kämpfen.
Vom Golem bis zu Star Trek’s Data
Marge Piercy verbindet organisch die Parallelen zwischen der Welt des mythischen Prags sowie der entworfenen Zukunftswelt, in der man sich ebenso alltäglich virtuell wie real bewegen kann, obwohl letzterer Erzählstrang erheblich spannender zu lesen ist.
Die von ihr verwendete Version des Golem-Mythos scheint von Abraham Rothbergs Roman "The Sword of the Golem"(1970) inspiriert worden zu sein. Denn ihr Golem ist ebenfalls nicht asexuell, sondern entwickelt ein subjektives Bewusstsein, das sich seiner Außenseiter-Position bewusst ist, Befehle hinterfragen und sich auch auf seine Weise verlieben kann. Rothberg orientierte sich damals an Karel Capeks 1921 uraufgeführtem utopistischen Kollektivdrama "RUR". Der Titel "RUR" ist eine Abkürzung des Firmennamens "Rossum’s Universal Robots". Dadurch verbreitete sich das tschechische Wort für körperliche Fronarbeit – ROBOTA - weltweit in dem Wort Roboter.
An dieser Stelle verbinden sich mehrere Ebenen: Die Figur des zum Schutz bedrohter Minoritäten künstlich „geborenen“ Golem als Ursprungspunkt des Computers, des Roboters und des Cyborgs. Dessen potentielle Beschaffenheit in dem "Manifest für Cyborgs" der feministischen Autorin Donna Haraway neu diskutiert wurde. Piercy nutzt Haraways Ansatz zur fiktionalen Suche nach einer möglichen Überwindung essentialistischer Körperkonstrukte. Nach dem Motto: Wo geht’s hier bitte zur positiven Utopie?
Marge Piercy: Er, Sie und Es.
SF Social Fantasies 5002
Argument Verlag 1998, 2002
Taschenbuch zum Preis von 15 €
ISBN 3-88619-936-3200431497275" target="_blank">