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Beitrag vom 12.08.2004
Hure. Ein authentischer Bericht von Nelly Arcan
Sabine Grunwald
Das provozierende Debüt der kanadischen Autorin ist jetzt als Taschenbuch erschienen. Die Story zieht die Leserin mit hinein in eine Welt zwischen Faszination und Abscheu
Eine junge Frau flieht vor der beklemmenden Enge ihres provinziellen Elternhauses in die Großstadt. Ihr Geld verdient die Literaturstudentin als Prostituierte. Schön und intelligent steigt sie bald zur gefragten Edel-Hure auf.
Die Freier sind gutsituierte Männer im Alter ihres Vaters. Mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination gibt sie sich ihnen hin. Es geht um das ewig-unschöne Spiel von Macht und Unterwerfung.
Unter ihrem Decknahmen "Cynthia" lebt sie alle Obsessionen aus, die ihre Mutter Zeit ihres Lebens nie erfahren hatte.
"Meine Mutter hätte das nie gemacht...was gibt es schon über meine Mutter zu sagen, ihre Lippen sind zu schmal, sie lächeln den Boden an, bemitleiden sich selbst,...ihre Finger sind vom vielen Nägelkauen verkrümmt, so ineinander verhakt, dass sie zu nichts mehr gut sind..."
Das Leben der Heldin gleicht einem Befreiungskampf, der sie zu verschlingen droht. Schon früh beginnt sie sich und die anderen zu verachten. Ihr bigotter Vater, der nur das Unglück der Welt heraufbeschwört, möchte sie als kleine unschuldige Tochter behalten. Das junge Mädchen antwortet darauf mit Magersucht und dem Barbie-Syndrom. Ihr Job ist es, ihren Körper schön, jung und begehrenswert zu erhalten. Bereits mit Mitte zwanzig sieht sie den Verfall und sehnt sich nach dem Tod.
"Dass mein Vater immer und immer wieder behauptet, es könne für den Menschen nichts Schlimmeres geben als sein Leben hier, das Leben auf dieser Erde...dass mein Vater von seiner Hölle aus Eisen und Feuer erzählt, steigert seine Wertschätzung des Lebens nicht, nein, er haßt es für alles, was die zehn Gebote überschreitet..."
Trotz der begeisterten Aufnahme, die dieses Debüt 2002 in einigen Medien gefunden hat, wird der Stoff um ein exzessives Doppelleben nicht Jede/n begeistern. In ewigen Wiederholungen bleibt die Autorin den erfahrenen Beziehungsmustern ihrer Kindheit verhaftet. Immer und immer wieder werden die Eltern angeklagt und beschimpft. Sie verachtet sich selbst, ihre Umwelt, Frauen und die Männer. Ob ihr jemals eine Befreiung gelingen wird, bleibt fraglich.
"Nelly Arcan besticht durch ihre scharfsinnige Darstellung der Sexualität, die sie, ohne die prosaischen Details aus den Augen zu verlieren, in wunderschönen Metaphern zum Ausdruck bringt."
Catherine Millet über "Hure"
Zur Autorin:
Nelly Arcan, 1975 in Quebec geboren, lebt in Montréal. Sie studiert Literatur. Hure ist ihr Debüt.
Nelly Arcan
Hure
Titel der Originalausgabe: Putain
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Deutscher Taschenbuchverlag, Mai 2004
ISBN 3-423-13193-4
9 Euro200263506275"