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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 30.05.2005


Franziska I. Stein und Brigitte Jäger. Viermal Leben und zurück
Tatjana Zilg

Detailreicher und informativer Zeitzeugenbericht über eine Jugend im 3. Reich, Vertreibung aus Karlsbad, Auswanderung nach Kolumbien und anschließendem Neustart in den USA als Restaurantbesitzerin




1922 liegt Karlsbad in der kurz zuvor gegründeten Tschechoslowakei, nachdem es viele Jahrzehnte lang zur österreichisch-ungarischen Monarchie gehört hatte. Hier beginnt das bewegte Leben von Franziska I. Stein. In eine angesehene Mittelschichtfamilie hineingeboren, wird ihre Jugend durch den Kriegsausbruch stark überschattet. In einem Schülerarbeitseinsatz übersetzt sie Befehle für Kriegsgefangene, die im Flughafenbau eingesetzt werden. Dort lernt sie auch ihre erste Liebe kennen, einen wesentlich älteren Fliegermajor, der später im Krieg fällt.

Noch stärkere Einbrüche kommen auf sie zu, als sie nach nur einem Semester das Philosophie- und Französisch-Studium abbrechen musste, um als Schwesterhelferin in den Kriegslazaretten zu arbeiten. Dort begegnet sie ihrem späteren Mann Georg, der von seiner Kriegsverwundung einen bleibenden schweren Schaden an den Füßen behält. Dennoch wird er wieder eingesetzt und gerät schließlich in russische Gefangenschaft. Im letzten Kriegsjahr bekommt Franziska I. Stein ihre Tochter Barbara, die sie unter den harten existenziellen Bedingungen mit großer Mühe, aber sehr liebevoll, aufzieht.

Nach der russischen Eroberung von Karlsbad wird sie als Sudetendeutsche mitsamt dem Baby ausgewiesen und flüchtet zu den Schwiegereltern nach Berlin. Mutig und gleichzeitig etwas leichtsinnig macht sie sich wenig später auf dem Rückweg, um als Illegale ihrer krebskranke Mutter die Sterbebegleitung anbieten zu können. Nur knapp der Verhaftung entgangen, kehrt sie nach Berlin zurück, wo sie ihrem Mann wiederbegegnet, der seelisch und körperlich stark angeschlagen aus der Gefangenschaft entlassen wurde.

Die entbehrungsreichen Jahre nach dem Krieg fordern große Opfer: Sie verliert das zweite Kind noch vor der Geburt, das dritte stirbt nach wenigen Atemzügen aufgrund großer Komplikationen an Blutungen. Ungebrochen an Lebenswillen und mit hoher Disziplin arbeitet das junge Ehepaar zunächst am täglichen Überleben. Mit der allgemeinen Verbesserung der wirtschaftlichen Situation stabilisiert sich die Lage der kleinen Familie: Eine ausreichend große Wohnung, eine gute Schule für Barbara, eine Anstellung für Georg als Zollinspektor und ein angenehmer Freundeskreis geben neuen Halt und Sicherheit.

Dennoch entschließen sie sich 1955 zu einem gewaltig großen Schritt: Nachdem sie eine alte Schulfreundin besucht hat, die seit langem in Kolumbien lebt, sieht Georg in der Auswanderung die Chance, dem Leben noch einmal eine völlig neue Richtung zu geben und überredet Franziska I. Stein zu dem Wagnis. Nach einigen Anfangsschwierigkeiten und einem mittleren Kulturschock leben sie sich dort gut ein, auch wenn sie für die Anstellung von Georg als Rezeptionsleiter eines großen Hotels nach Bogota ziehen müssen, wo sie mit allen Nachteilen einer südamerikanischen Metropole konfrontiert werden. Das triste, einsame Großstadtleben steigert wieder ihre Unzufriedenheit, wodurch auch das Fundament ihrer Ehe zunehmend ins Schwanken gerät.

Der erneute Wechsel in die Kleinstadt Cali, wo ihre deutschen Freunde leben, erleichtert den Alltag in Kolumbien immens. Sie pachten eine Pension, die sie erfolgreich führen und schnell vergrößern können. Parallel dazu beginnt die hoch motivierte Frau zusammen mit einem Berliner Anwalt, EmigrantInnen bei Entschädigungsforderungen gegen den deutschen Staat zu unterstützen. Aufgrund wachsender politischer Unruhen geht das Ehepaar 1966 nach Colorado in die USA, wo ihre Tochter bereits studiert. Es gelingt ihnen, dort ein Restaurant zu kaufen und in kurzer Zeit zu einem beliebten Ort bei der einheimischen Bevölkerung sowie den TouristInnen zu machen.

Das Programm des neuen Verlages "edition Grüntal" hat sich zum Ziel gestellt, Geschichte erlebbar zu machen und nicht nur den HistorikerInnen und FachexpertInnen vorzubehalten. Die im Romanstil geschriebenen Zeitzeugenberichte sollen einen verständlichen und nachvollziehbaren Zugang für alle Interessierten ermöglichen.
Sehr positiv fällt auf, dass die Erzählung der Franziska I. Stein nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und den Entbehrungen der Nachkriegsjahre endet, sondern die unerwartete Wendung der Auswanderung nach Kolumbien nimmt. Neben dem individuellen Erlebnis der Zeitgeschichte werden auch die langfristigen Schwierigkeiten in der Ehe geschildert, und wie sich die Liebe zu dem anfangs so fremden südamerikanischen Land langsam, aber sehr intensiv entwickelt.

AVIVA-Tipp: Die Leserin/der Leser wird von der aufwühlenden Lebensgeschichte von der ersten bis zur letzten Seite in den Bann gezogen. Trotz etlicher schwerer Schicksalsschläge, einer vorbelasteten, sehr komplizierten Ehe und großer Betroffenheit durch die geschichtlichen Ereignisse stellt sich die wortgewandte Frau ihrem Leben mit optimistischem Mut und hoher Willensstärke. Es gelingt ihr, einen ausgewogenen Mittelweg zwischen Selbstverwirklichung, Disziplin und Fürsorge für ihre Familie zu finden.


Franziska I. Stein / Brigitte Jäger
Viermal Leben und zurück

Edition Grüntal Verlag, erschienen 01.03.2005
ISBN 3-938492-01-9
352 Seiten, gebundene Ausgabe
18,90 Euro
www.editiongruental.com



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Beitrag vom 30.05.2005

AVIVA-Redaktion