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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 13.07.2005


Die Frauen von Ravensbrück. Loretta Walz
Hilke Bölts

Und dann kommst Du dahin an einem schönen Sommertag. Konzentrationslager aus weiblicher Sicht - europäische Frauen berichten aus Ravensbrück




Diese Frage stellten Überlebende von Konzentrationslagern des Naziregimes jüngst auf einem Kongress in Potsdam ("Perspektiven antifaschistischen Gedenkens", Potsdam 17.-19. Juni). Sie waren dort mit jüngeren AktivistInnen aus der Gedenkstättenarbeit, aus antifaschistischen Gruppen und aus Lagergemeinschaften zusammen gekommen, um über die Perspektiven antifaschistischer Erinnerungsarbeit zu debattieren. War und ist die politische Arbeit von Überlebenden immer auf die persönlichen Erfahrungen mit der Vernichtungsmaschinerie der Nazis bezogen, muss die jüngere Generation aus Erzählungen und historischer Forschung schöpfen, um eine Mahn- und Gedenkpraxis fortsetzen zu können? Die Hauptfrage des Kongresses:
Wer ist nach dem Tod von Überlebenden wie legitimiert, um deren Arbeit weiter zu führen?

Ungeachtet dieser schwierigen Debatte steht außer Frage, dass nur noch wenig Zeit bleibt, um die direkten Erfahrungen zu hören, aufzuzeichnen und zu dokumentieren. Eine Frau, die sich dieser Arbeit verschrieben hat, ist Loretta Walz. Seit 1980 hat die Berliner Filmemacherin - dem Konzept der oral history folgend - lebensgeschichtliche Videointerviews mit Frauen geführt, die in den Konzentrationslagern Mohringen, Lichtenburg und Ravensbrück sowie im Jugendschutzlager Uckermark inhaftiert waren. In 25 Jahren ist eine Sammlung von inzwischen etwa 200 Gesprächen entstanden, die in Filmen, Broschüren und Büchern publiziert wurden. Für ihr Buch "Wie kann die Zukunft des Erinnerns aussehen" hat Loretta Walz 35 Interviews mit ehemaligen Ravensbrückerinnen ausgewählt, die sie in verschiedenen Phasen ihrer 25jährigen Arbeit geführt hat.

Die Auswahl spiegelt deutlich den Wandel von historischen Bedingungen wieder, unter denen die Interviews entstanden sind. Zunächst richtete sich der Blick auf westdeutsche, später auf westeuropäische Überlebende. Damals waren es vor allem diejenigen, die in den politischen Verfolgtenverbänden organisiert waren, die sich zu Interviews bereit zeigten. Mit der Wende veränderte sich der Blickwinkel. Verstärkt wurden Jüdinnen, Zeuginnen Jehovas oder schwarzwinklige (sogenannte "asoziale") Häftlinge interviewt, Frauen, die in der politischen Öffentlichkeit bis dahin kaum zu Wort gekommen waren und ganz neue Perspektiven in die Aufarbeitung der Lagergeschichte brachten. Spätestens seit Mitte der 90er Jahre änderte sich der Focus erneut. Als zunehmend Häftlinge aus Osteuropa Kontakt zur Gedenkstätte in Ravensbrück aufnahmen, entstand für Loretta Walz die Möglichkeit, auch mit diesen Frauen Interviews zu machen.

Somit ist ein vielschichtiges Buch entstanden. Die befragten Frauen haben den Lageralltag, je nach Herkunft, Zeitpunkt und Grund ihrer Inhaftierung, auf sehr unterschiedliche, oft auch widersprüchliche Weise erlebt. So berichten einige Interviewpartnerinnen von der grenzenlosen Solidarität, die es unter den Gefangenen gegeben habe, andere wiederum erinnern sich bis heute ausschließlich und unter großen Schmerzen an den Verlust jeglicher Mitmenschlichkeit unter den Häftlingen. Unter den Funktionshäftlingen gab es Frauen, die zeitweise den Eindruck hatten, im zivilen Leben zu stehen, während etwa Frauen, die zu Außenarbeiten geschickt wurden, nur von Hunger, Krankheit und Gewalt zu berichten wissen. Keine der Frauen hingegen, und das eint sie, konnte nach der Befreiung die Zeit im Konzentrationslager vergessen. Jeder weitere Lebensweg wurde davon geprägt, bis in die Kinder- und Enkelgeneration hinein wurde das Leiden, auf unterschiedlichste Weise, weiter gegeben.

Bedrückend in dieser Hinsicht ist etwa die Geschichte der Tschechin Hanka Houskova, die 1942 nach zwanzigmonatiger Haft nach Ravensbrück deportiert worden ist. Houskova, befreundet mit Milena Jesenska, hat das Lager überlebt und ist anschließend in ihre Heimat zurückgekehrt, um am Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft teilzuhaben. 1968 war das Projekt in ihren Augen gescheitert, als Anhängerin von Dubcek wurde sie erneut verfolgt. Genossinnen aus der Lagergemeinschaft Ravensbrück distanzierten sich von ihr, schließlich wurde sie offiziell ausgeschlossen. "Und das, obwohl man, so betonte Hanka Houskova immer wieder, in der Lagergemeinschaft nicht durch Eintritt, sondern durch die gemeinsam erlebte Geschichte Mitglied wird." (S. 193) Für Hanka ein bitterer Einschnitt in ihrem Leben, erst 1994 erlangte ihre Biografie für die Geschichte des Lagers Ravensbrück wieder von Bedeutung, als in der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück neue Ausstellungen erarbeitet wurden.

Dem Buch von Loretta Walz ist anzumerken, mit welchem Engagement und Mitgefühl sich die Autorin ihren Interviewpartnerinnen genähert hat. Immer wieder beeindruckend ist die Offenheit, mit der die Frauen von ihren Erfahrungen und ihrem Leben berichten. Scheinbar ist es gelungen, ihnen - wenn möglicherweise auch mit einiger Anlaufzeit - eine Atmosphäre zu bieten, in der sie sich sicher genug fühlten, ihre Erlebnisse und Gefühle preis zu geben. Loretta Walz gibt sich aber nicht nur mit dem Erzählten zufrieden. Sie bettet die Geschichten in biografische Daten der Frauen ein, interpretiert und versucht, Leerstellen zu deuten. "Erst beim Abtippen dieses Gesprächs wurde ich auf den erwähnten Alkohol aufmerksam. Ich fragte nach, und Maria Zeh erzählte, dass die Jüdinnen sich betäuben wollten, bevor sie zur Vergasung geschickt wurden. Deshalb habe sie den Alkohol aus der Lagerapotheke gestohlen.... Tausende Jüdinnen wurden vergast - und Maria Zeh hatte ein schlechtes Gewissen, geklaut zu haben?" (S. 36) Somit fügen sich wie in einem Puzzle Einzelteile zusammen, die Aufschluss über das Leben und Sterben im Lageralltag und die Fortsetzung der Erinnerungen nach Kriegsende geben.

AVIVA-Tipp: Bücher wie dieses könnten zukünftig Bausteine sein in der Gedenk- und Mahnarbeit an die Verfolgungen durch das Naziregime. Durch die Dokumentation der Erinnerungen von Überlebenden kann die Fortsetzung ihrer Erzählungen gewährleistet sein, durch die Deutung erweitern sich Erkenntnisse und Wissen über die von den Nazis angewandten Strategien des Schreckens und des Terrors. Zu klären bleibt dabei, in welcher Art und Weise Originaldokumente wie etwa die Interviews von Loretta Walz einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt werden und nach welchen Grundsätzen sie bearbeitet werden können und sollen. Diese Aufgabe stellt sich nicht mehr den Überlebenden, sie obliegt der Verantwortung der jüngeren Generationen.


Loretta Walz
Und dann kommst Du dahin an einem schönen Sommertag

Die Frauen von Ravensbrück
Antje Kunstmann Verlag, erschienen März 2005
ISBN/EAN 3-88897-388-0
24,90 Euro
430 Seiten, Gebunden, mit Abbildungen200730824875"



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Beitrag vom 13.07.2005

AVIVA-Redaktion