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Beitrag vom 19.09.2002
Das Eis das bricht von Sabine Friedrich
Gaby Miericke-Rubbert
"Sie ist noch da draußen! ... Ich habe sie draußen verloren, im Schnee, sie stirbt, sie
stirbt!"
Das sind die Worte, die Roberts Leben eine neue Wendung geben werden. Worte, die der blutende junge Mann mit dem wimmernden Baby auf dem Arm herauskeucht, nachdem er Roberts Auto mitten in einem verschneiten Winterwald zum Anhalten gezwungen hat. Robert gelingt es, die schwer verletzte und halb erfrorene Frau zu retten.
Und von da an spürt er eine unlösbare Verstrickung seines Lebensweges mit dem ihren: "Und welche Kultur war es doch, in der man für ein Leben, das man gerettet hatte, fortan verantwortlich war? (...) weil man sich
eingemischt, eigenmächtig ein Leben verlängert hatte, das für die Götter bereits beendet war." (S. 25)
In Rückblenden schildert die Autorin Sabine Friedrich, wie sich die Wege der beiden über Jahre hinweg aufeinander zu bewegt haben. Bruchstücke aus Eitelkeiten, Einsamkeit, Egoismus und Beziehungslosigkeiten werden sichtbar.
Robert Brauer, erfolgreicher Architekt aus München, Anfang 40 mit Bauchansatz und einer Vielzahl mißglückter Liebesepisoden und Sina Fischer, Mitte 30, aus derselben Stadt, mit abgebrochenen Studiengängen und oberflächlichen Partybeziehungen. Etappen ihres unbefriedigenden, verpfuschten Lebens, die beide zum Aussteigen aus ihrem Alltag in die USA führen.
Endlich kreuzen sich ihre Wege in dramatischer Zuspitzung in einer Februarnacht in den nordöstlichen Ausläufern der Appalachen. Und nun ergibt sich die Möglichkeit zu einer tastenden Neuorientierung ihres Lebens.
Robert kommt nicht mehr los von der rätselhaften Fremden, die er im Wald gefunden hat. Er begleitet sie von nun an durch ihr monatelanges Leiden, durch ihr qualvolles Schweigen, durch den Verlust ihrer Erinnerung. Er steht ihr zur
Seite, als sie langsam durch das bröckelnde Eis ihres Schweigens hindurch ihre alte Identität wiederfindet, um sich gleichzeitig auf die Suche nach einer neuen zu machen.
Und Sina begleitet Robert auf seinem Weg, das Eis aus Gefühllosigkeit und Härte aufzubrechen, um Empfindsamkeit und Authentizität finden zu können.
Es ist spannend und anrührend zugleich, als LeserIn mitzuerleben, wie sich unter dem gebrochenen Eis ein Netz von neuen intensiven Beziehungen entspinnen kann. Ein Netz von aufrichtigen und tiefen Emotionen und Freundschaften, die Verantwortung
übernehmen und Mut zur Nähe entwickeln.
In ihrer teils zärtlichen, teils spröden Sprache hat uns Sabine Friedrich eine bewegende Liebesgeschichte geschenkt, abenteuerlich und spannend zugleich, die Spuren von Berührtsein und Nachdenklichkeit unter dem Eis freizulegen versteht.
Das Eis, das bricht
Roman
Sabine Friedrich
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main, 2002
ISBN 3-8218-0912-4
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