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Beitrag vom 23.04.2004
Wahnsinn und Wirklichkeit
Hilde Meier
Mit "Adler und Engel" schreibt Juli Zeh einen rasenden Politthriller über Liebe und Politik, Realität und Drogenwahn - mit einem Roman-Stil, der unter die Haut geht
"Ich glaube, die Tiger sind wieder da". Das sind Jessies letzte Worte. Dann fällt ein Schuss und sie ist tot. Mit dieser dramatischen Situation beginnt der intensive Roman von Juli Zeh "Adler und Engel."
An dem Tag, an dem seine große Liebe Jessie sich erschießt, bricht auch das Leben von Max in sich zusammen. Er begräbt seine glänzende Karriere als Spezi-alist für Völkerrecht. Anstatt weiter Verträge für die EU-Osterweiterung in Leipzig auszuhandeln, kokst er sich lieber das Hirn weg. Max hat mit der Realität abge-schlossen und will sich völlig in seine Welt psychotischer Wahnvorstellungen zurück-ziehen, um seine Paranoia und seinen Selbsthass ungestört zu kultivieren.
Es ist allein Claras Schuld, dass er nicht in dieser Bewusstlosigkeit auf sein Ende warten kann. Denn er landet "auf dem Objektträger" der ehrgeizigen Psycho-logie- und Soziologie- Studentin, die seine "Hirnausscheidungen eines drogenkran-ken Psychotikers" zum Thema ihrer Diplomarbeit macht.
Die 29-jährige Autorin stellt das Leben von Max und Jessie in den Kontext ei-ner bitteren Realität: EU -Osterweiterung, Balkankrise, UNO-Politik. Dazu ein Kreis von Männern, die dabei "mitmischen" wie Völkermörder Arkan, Kopf der paramilitärischen "Tigers", Jessies Vater Herbert, Chef des Drogenrings und Rufus, der renommierter Wiener Anwalt und Chef von Max.
Diese verschiedensten Thematiken werden zu einer grausamen und korrupten Wirk-lichkeit addiert. Juli Zeh läßt die LeserInnen kaum Luft holen, atemlos wird man in die Geschichte hineingezogen. Man merkt schnell, dass die Geschichte des drogen-süchtigen Max nicht bloß die Geschichte eines liebeskranken Irren ist, der sich vom fetten Schulversager zum erfolgreichen Juristen wandelt und der ausgerechnet unsterblich in die Freundin seines besten Freundes verliebt ist.
Durch Claras Einmischung deckt Max die wahren Abgründe der Skandale, an denen er unwissentlich beteiligt war, auf. Am zentralen Schauplatz seiner Ver-gangenheit, in Wien, fügt Max mit Clara die Ereignisse zu einem Puzzle zusammen, das seine Wahnvorstellungen in den Schatten stellt.
Manchmal tauchen in dem krassen Polit-Thriller jedoch sinnleere Sätze auf: "Eine Wolke schiebt sich über den Mond. Es wird dunkel wie in einer Kuh" und Sprüche. "Aus der Flasche trinken ist manchmal wie küssen, langer dünner Hals und nasser Mund". Und die nur nach außen hin so toughe Clara wirkt manchmal klischeehaft.
Die in Leipzig lebende Autorin Juli Zeh zeichnet in ihrem Erstlingswerk starke Figuren, die nicht langweilen.
Voller Neugier und Spannung "frißt" man sich durch dieses Buch, um vielleicht doch noch das Geheimnis um Jessie zu ergründen, die bis zum Schluß nicht greifbar wird. "Man konnte sie nicht kennen, wie man andere Menschen kennt oder einen Baum oder einen Hund. Höchstens so, wie man einen Schwarm Fische kennen kann", stellt Max zum Ende des Buches fest.
Adler und Engel
Juli Zeh
ISBN/EAN 3-442-72926-2
btb Taschenbücher, Verlag
Goldmann, 2003
10,00 €
kartoniert, 448 Seiten"