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Beitrag vom 25.10.2005
So viel Energie - Künstlerinnen in der dritten Lebensphase
Maren Westensee
Hanna Gagel zeigt das Spätwerk von 16 Künstlerinnen, die bis ins hohe Alter hinein neue Ansätze in ihrer Kunst fanden. Marianne Werefkin, Käthe Kollwitz, Helen Dahm...
... Sonia Delaunay, Georgia O´Keeffe, Hanna Höch, Louise Nevelson, Alice Neel, Lee Krasner, Louise Bourgeois, Agnes Martin, Verena Loewensberg, Meret Oppenheim, Maria Lassnig, Magdalena Abakanowicz und Niki de Saint Phalle werden kurz in ihrer künstlerischen Entwicklung vorgestellt, bevor die kreative Arbeit der späten Jahre eingehend erläutert wird. Kennzeichnend für diese Künstlerinnen ist, dass sie mit über 50 Jahren nicht nur schwache Wiederholungen ihrer früheren Kunst schufen, sondern diese weiterentwickelten. Käthe Kollwitz, die mit ihren sozialkritischen und pazifistischen Grafiken bekannt wurde, beginnt im dritten Lebensalter verstärkt, Plastiken zu schaffen. Verzweiflung über den Tod ihres Sohnes Peter lässt sie an einem Eltern-Denkmal arbeiten, doch es gefällt ihr nicht wirklich. Fast 70jährig fängt sie aus einem Gefühl der Leere hinaus mit der Arbeit an ihrem Grabmal an. Und findet damit zu einem Ausdruck in der Skulptur, den sie bisher nicht erreicht hatte.
Auch Sonia Delaunay fand spät zu neuer künstlerischer Ausdruckskraft. Sonias Leben war lange bestimmt von ihrer Ehe mit Robert Delaunay, der 38 Jahre früher als sie starb. Vor allem in den ersten gemeinsamen Jahren befruchtete ihre künstlerische Arbeit sich gegenseitig. Das Paar entwickelte den Farb-Kubismus. Nach Roberts Tod widmete sich Sonia seinem Werk, wollte es verbreiten und ein Buch über ihn veröffentlichen. Schließlich erinnerte sie sich daran, dass Delaunay ihr malerisches Talent geschätzt hatte, und konnte sich im Alter von 63 Jahren nach der Unterbrechung durch Krieg und Tod ihres Mannes wieder auf die Malerei einlassen. Farbe und Rhythmus waren ihr fortan wichtig, wie ihr leuchtendes Gemälde "Rythme couleur" von 1959/60 zeigt. Aber auch runde Formen finden sich immer wieder in ihren Arbeiten. Wie im Plakatentwurf für das Jahr der Frau 1975 mit gebogenen, runden Formen, die an archaische Darstellungen von Weiblichkeit erinnern, gleichzeitig aber durch die Farbkombination blau-rot an die russischen Steckpuppen.
Georgia O´Keeffe Malerei war zunächst von ihren Lehrern geprägt. Sie bemerkte: "Die Schule und die Dinge, die die Lehrer mir vermittelten, hinderten mich daran, zu malen wie ich möchte." Daraufhin zerstörte sie den Großteil ihrer frühen Werke, um von vorne anzufangen. Im mittleren Westen der USA aufgewachsen, hatte O´Keeffe schon seit frühester Kindheit einen intensiven Bezug zur Natur. Sie suchte sich Motive aus der Natur und fand den Kuhschädel als Ausdrucksform. Nach einer Phase der Krankheit und Depression reiste sie als ältere Frau immer wieder für längere Zeit in den Südwesten der USA, wo sie ihr Schädelmotiv wieder aufnahm und veränderte. Ihr Gemälde "From the Faraway Nearby" zeigt einen Hirschschädel mit riesigem Geweih, das den hohen Himmel über einer Wüste füllt. Ein großes Auge blickt aus dem Knochen hinaus. Sie variierte die Schädel weiter und ersetzte sie schließlich durch Beckenknochen. Farben und Formen gehen in ihrer Arbeit zwar von der Natur aus, werden aber zunehmend abstrahierter und gewinnen surrealistische Qualitäten. So findet sich auch in ihrer letzten Folge "Sky above Clouds" ein weiter Himmel über einer Fläche von schwebenden, gleichförmigen Wölkchen, die nebeneinander in der Luft treiben.
Im Leben der Künstlerin Helen Dahm zeichnete sich dagegen im dritten Lebensalter eine Neuorientierung ab. Sie musste sich von ihrer Lebensgefährtin trennen, folgte dem indischen Weisen Shri Meher Baba nach Indien und kehrte nach schwerer Krankheit bald wieder zurück. Diese Lebenserfahrung prägte von nun an auch ihre Bilder. Schließlich erhielt sie 1953, bereits 75 Jahre alt, ihre erste große Ausstellung, und konnte als 70jährige endlich von ihrer Arbeit leben. 40 Jahre lang hatte sie expressiv gegenständlich gemalt. Aus Lust am Experimentieren entstanden nun ungegenständliche und spontane Arbeiten. Die über 80jährige widmete sich wieder vermehrt gegenständlicher Malerei. Über das Leben im Alter sagte Helen Dahm mit 78 Jahren: "Ich fange jeden Tag an, als wäre es der erste und zugleich der letzte...Ein großes Geschenk ist es, alt werden zu dürfen, um dem Ziel entgegenzureifen. Denn es ist alles Weg, Wandern, immer weiter, bis der Geist überwindet."
Zur Autorin: Hanna Gagel promovierte 1971 zur Geschichte des deutschen Plakats 1900-1914. Sie war 25 Jahre lang als Dozentin für Kunstgeschichte und Kunstvermittlung an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Zürich tätig. Im Alter von circa 50 Jahren begann sie, speziell über die Kunst von Frauen zu forschen und Vorträge und Seminare zu dem Thema zu halten.
Herausgeberin Britta Jürgs gründete 1997 den AvivA Verlag. Sie publizierte Portraitbände über Künstlerinnen und Schriftstellerinnen des Surrealismus, Dadaismus, Expressionismus, der Jahrhundertwende und der Neuen Sachlichkeit.
AVIVA-Tipp: Ausgehend von kurzen Lebensbeschreibungen vertieft Hanna Gagel die künstlerische Entwicklung der Frauen in der dritten Lebensphase. Der Band zeugt vom gewaltigen kreativen Potenzial im Alter. Das Leben ist für diese Künstlerinnen noch immer im Wandel begriffen. Gerade die lange Lebens- und Kunsterfahrung verdichtet sich im Spätwerk zu reichen Arbeiten, die viel Zeit zum Reifen hatten.
Hanna Gagel
So viel Energie - Künstlerinnen in der dritten Lebensphase
Britta Jürgs Hrg.
AvivA Verlag, Oktober 2005
Gebunden, 300 Seiten
28,50 Euro
ISBN: 3932338243
EAN: 9783932338243 http://www./?r=aviva-berlin90008115&artiId=3588557" target="blank">