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Beitrag vom 31.12.2003
Ein Krimi über echte und falsche Verfolgte der Schoah
Gastautorin Iris Noah Weiss
Die Amerikanerin Sara Paretsky gehört auch hierzulande zu den bekannten Kriminalautorinnen. Ihre Heldin Vic Warshawski war in den siebziger Jahren Chicagos erste weibliche Privatdetektivin
Die Amerikanerin Sara Paretsky gehört inzwischen auch hierzulande zu den bekannten Kriminalautorinnen. Ihre Heldin Vic Warshawski war einst - in den siebziger Jahren - Chicagos erste weibliche Privatdetektivin mit Lizenz. Jetzt ist sie wieder unterwegs, in ihrem nunmehr zwölften Fall.
Erst einmal fängt die Geschichte für Vic Warshawski als scheinbar harmloser Routinefall an, nämlich mit dem Auftrag, einen Versicherungsbetrug aufzuklären. Isahiah Sommers heuert die findige Privatdetektivin an, damit sie herausfindet, was mit der Versicherungssumme seines kürzlich verstorbenen Vaters passiert ist, die angeblich schon vor zehn Jahren ausbezahlt worden sein soll. Die Spur führt zur Ajax-Versicherung.
Zeitgleich passiert jedoch etwas Verwirrendes: Ihre beste und älteste Freundin - zeitweise auch Ersatzmutter, die Ärztin Lotty Herschel, stets kontrolliert und beherrscht, verliert völlig die Fassung, als in einem Fernsehinterview ein Mann behauptet, er habe das Geheimnis seiner Herkunft lösen können. Er sei Paul Radbuka, ein jüdisches überlebendes Kind, das nach dem 2. Weltkrieg in London gelebt hat und von seinem Stiefvater, einem Nazi, unter Vorspiegelung falscher Tatsachen nach Amerika gebracht worden sei. Er sucht seine Familie und ist überzeugt, sie in Lotty und ihren Freunden gefunden zu haben.
Vic Warshawski gerät sehr schnell zwischen die Fronten zweier rivalisierender Bürgerrechtstruppen, nämlich der Organisation des schwarzen Aktivisten Alderman Durham und der seines orthodoxen jüdischen Gegenspielers Joseph Posner, dem sich Paul Radbuka angeschlossen hat. Die Aktionen beider Gruppierungen richten sich gegen die Ajax Versicherungsgruppe. Es geht um die Beiträge jüdischer Opfer des Holocausts sowie die finanziellen Reserven, welche die Versicherung auf Kosten schwarzer Sklaven erwirtschaftet haben soll.
Die beiden Fälle, die erst einmal nichts miteinander zu tun haben,
sind auf unterschiedlichen Ebenen miteinander verquickt.
Der Schlüssel zur Lösung scheint in Lottys Geschichte zu liegen.
Die Freundschaft der beiden Frauen ist einer harten Bewährungsprobe ausgesetzt, denn Lottys Überlebensstrategie ist es, sich nicht mit alten Wunden zu konfrontieren. Gegen deren ausdrücklichen Willen beginnt Vic in der Vergangenheit ihrer Freundin zu suchen.
Als junges Mädchen wurde Lotty vor Ausbruch des Krieges mit einem der vielen Kindertransporte von Wien nach England gebracht. Viele jüdische Familien versuchten damals, ihre Kinder in letzter Minute auf diese Weise zu retten. So auch Lottys Familie, von der - außer ihrem kleinen Bruder- niemand überlebte. Nach ihrer Ausbildung zur Ärztin emigriert sie nach Amerika und macht dort Karriere.
Und wer ist dieser Paul Radbuka wirklich, der sich öffentlich als Holocaustopfer darstellt? An ihn ist nur unter großen Schwierigkeiten heranzukommen, denn seine ehrgeizige Hypnose-Therapeutin, die ihm beim Entschlüsseln seiner Vergangenheit hilft, blockt alle Versuche der Kontaktaufnahme aus therapeutischen Gründen ab. (Wilkomirski läßt grüssen!)
Sara Paretsky ist studierte Historikerin und hat 10 Jahre als Managerin in der Versicherungswirtschaft gearbeitet. Dieser Hintergrund ermöglichte es ihr einen faszinierenden Krimi zu schreiben. Sauber und detailgenau recherchierte sie die unterschiedlichen Milieus jüdischen Lebens in Wien, wer auf welche Weise von der Notlage der Juden finanziell profitierte, die Geschichte der Kindertransporte, die Bedingungen, unter denen in der Nachkriegszeit in England die Medizinerausbildung stattfand oder auch den Stand der psychoanalytischen Forschung zu überlebenden Kindern bis hin zur Lektüre von Anna Freuds Aufzeichnungen über den Umgang mit einer Gruppe überlebender Kinder sowie neuere Forschungen über die Psychodynamik bei Therapien, bei denen es um erfundene jüdische Biografien (Wilkomirsky-Syndrom) geht.
Selten habe ich diese Themen, die sonst meist über fachwissenschaftliche Publikationen bekannt sind, so gut in Alltagssprache umgesetzt gelesen und dann noch durch eine Krimihandlung vermittelt.
Schwächen gibt es nur bei einer Nebenhandlung - nämlich die um "Ilse Koch, die Wölfin". Hier sind der Verfasserin einige Fehler und Ungenauigkeiten unterlaufen. Warum aus den osteuropäischen jüdischen DPs (displaced persons) "Vertriebene" werden, unter denen im deutschen Sprachraum eine ganz andere Personengruppe bezeichnet wird, ist nicht verständlich.
Trotzdem ist "ihr wahrer Name" der beste der bisher zwölf Vic-Warshawsky-Krimis und für alle, die gern Krimis zu jüdischen Themen lesen, ein MUST. Interessant war für mich bei der Lektüre von Rezensionen nicht-jüdischer Rezensentinnen, daß ich die Kritik an Passagen, die von diesen als unverständlich oder nicht konsistent bezeichnet wurden, überhaupt nicht teilen kann. Das machte mir wieder einmal deutlich, wie weitgehend eigene Prägungen und Gruppenzugehörigkeiten sich auf Alltagswahrnehmungen auswirken.
Ihr wahrer Name (total recall) -
Sara Paretsky
Ãœbersetzung: Sonja Hauser
Piper Verlag, Mai 2003
ISBN/EAN 3-492-23906-4
9,90 €90008115&artiId=2158563"