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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 06.02.2006


Juden, Frauen und Literaten
Sarah Ross

In seiner Studie untersucht Heinrich Detering die Künstlerfiguren und Literaten in Thomas Manns frühen Texten, die ihre Position und Legitimation in der Gesellschaft immer wieder in Frage stellen.




Was haben Juden, Frauen und Literaten gemeinsam, und was kann über den bekannten Schriftsteller Thomas Mann noch gesagt werden, was wir nicht schon längst zu wissen glauben? Die Antwort darauf gibt uns der Literaturkritiker und Germanist Heinrich Detering in seinem neuen Buch "Juden, Frauen und Literaten. Zu einer Denkfigur beim jungen Thomas Mann". Der Autor untersucht in seiner Studie die Rolle des Literaten im Frühwerk von Thomas Mann und die damit verbundene existentielle Erfahrung, Teil einer Gesellschaft zu sein, ohne sich in ihr aufgehoben zu fühlen. Eine Erfahrung, die Frauen, Juden - und Literaten zu Beginn des 20. Jahrhunderts teilen. Durch seine präzise Lektüre kommt Detering schließlich zu dem überraschenden Ergebnis, dass Thomas Mann sich selbst als einen weiblichen und jüdischen Schriftsteller begreift. Mit der Annahme dieses Stigmas fand Mann zu seiner künstlerischen Produktivität.

Heinrich Detering unternimmt mit seiner neuen Studie einen originellen Streifzug durch die frühen Texte des Schriftstellers. Nah am Text argumentierend und dennoch allgemeine Denkstrukturen überschreitend, wirft der Autor nicht nur ein völlig neues Licht auf das frühe Werk des Thomas Manns. Er beschreibt zudem sehr präzise das in den Künstlerfiguren nieder gelegte Selbstverständnis, was uns schließlich zu Manns eigenem Selbstbildnis führt, welches er in diesen Texten für sich entworfen hatte. Dieser Prozess, der von Detering kritisch hinterfragt wird, mündet schließlich in allumfassenden Überlegungen zur Stellung des Künstlers in der Gesellschaft.

So steht im Zentrum seiner Studie die Denkfigur des Stigmatisierten, die Mann in seinem Frühwerk auf unterschiedliche Art und Weise konturiert hat. Denn Thomas Mann, der Künstlerfiguren im Allgemeinen als Außenseiter begriffen hat, fand laut Deterings Ergebnissen seine künstlerische Identität in gesellschaftlich stigmatisierten Gruppen: vor allem bei den Frauen und den Juden. Sie alle waren stets dazu gezwungen, ihre Stellung und Legitimation in der Gesellschaft in Frage zu stellen. Dabei ist ihnen und Thomas Mann eines gemeinsam - nämlich "der Ekel vor dem, was man ist." Der Autor zeichnet hier den Grad der Stigmatisierung nach, den Mann in seinen Erzählungen vorgibt: So wandelt sich das Motiv der körperlichen Entstellung ("Der kleine Herr Friedmann", 1897) zur sozialen Ausgrenzung von Männern, die in Frauenrollen auftreten ("Luischen", 1900), bis hin zur Figur des geachteten wie verachteten Juden, der zum Vorbild für den auserwählten und geschmähten Literaten wird, und gleichzeitig in einem etablierten Außenseiterdiskurses endet. Bei der Darstellung des Ambivalenten in Manns Denkfigur des Stigmatisierten gelingt es dem Autor "sowohl die ästhetische wie auch die lebensgeschichtliche Dynamik der Denkfigur sichtbar" zu machen.

AVIVA-Tipp: Heinrich Deterings Studie "Juden, Frauen und Literaten" ist eine weit gefächerte und sehr gut geschriebene Darstellung der Künstlerfiguren in Thomas Manns frühem Werk. Der Autor beleuchtet dabei jedoch nicht nur die Texte an sich aus einer neuen Perspektive, sondern offenbart uns auch bisher unbekannte Seiten der jungen Person Thomas Mann: Ein stigmatisierter Literat, der sich sowohl als Frau als auch als Juden begreift. Eine überaus anregende Studie und ein brillanter Essay zugleich.

Zum Autor:
Prof. Dr. Heinrich Detering, geboren 1959, Lehrtätigkeiten in Göttingen und München, Gastprofessuren in Kalifornien, Aarhus und Bergen, seit 1995 Professor für neuere deutsche Literatur und Neuere skandinavische Literaturen an der Universität Kiel. Autor zahlreicher Bücher und Aufsätze zur deutschen und europäischen Literatur.



Juden, Frauen und Literaten
Zu einer Denkfigur beim jungen Thomas Mann
Heinrich Detering

S.-Fischer-Verlag, November 2005
ISBN-13: 978-3-10-014203-0
ISBN-10: 3-10-014203-9
203 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
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Beitrag vom 06.02.2006

Sarah Ross