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Beitrag vom 24.04.2006
Renate Wichers - Nie mehr Sex - Leben ohne Liebe
Agnes Winklarz
Unabhängig von Alter, Bildung und sozialem Umfeld berichten elf Frauen und elf Männer von ihrer sexuellen Vergangenheit, ihren Vorlieben und von den Motiven, warum sie auf Sex verzichten.
1905 war das Jahr, in dem Sigmund Freud eine für damalige Verhältnisse ungeheuerliche Theorie aufstellte: "Der Sexualtrieb ist die größte Antriebskraft menschlichen Handelns, die Basis des Seelenlebens." Alle Menschen wissen das, so behauptete er, und richten deshalb ihr Leben danach. Alle? Alle - "bis auf wenige verschrobene Fanatiker".
Doch wer sind diese einzelnen Exemplare? Immerhin leben wir in einer vollkommen sexualisierten Gesellschaft, in der (regelmäßiger) Sex von jedem einzelnen erwartet wird. Wer diesem Anspruch nicht genügt gilt, als prüde, frigide, verklemmt.
22 Personen, die in den vergangenen Jahren aus unterschiedlichen Gründen auf Sex verzichtet haben, stellen sich auf jeweils 9 - 14 Seiten in Renate Wichers Buch "Nie mehr Sex - Leben ohne Liebe?" vor. Die einzelnen Charaktere hätten ungleicher nicht sein können: Sie haben sich teils selbständig für ein Leben ohne Sex entschieden, oder sind durch äußere Umstände, wie zum Beispiel die Krankheit ihres Partners, dazu gezwungen. So auch Erika B, die aus "Vernunftgründen" auf Sex verzichtet, da ihr Mann nach einem Schlaganfall unter Impotenz leidet. In ihrer ersten Ehe war sie regelmäßigen Sex gewohnt. Genau wie Petra D., die "zwölfmal am Tag, alle zwei Stunden" mit ihrem Ex-Freund Sex hatte oder Martina S., die auch einem schnellen Abenteuer mit einem fremden Mann im Zug nicht abgeneigt war. Die 43-jährige Jaqueline ging sogar so weit, aus ihrer Leidenschaft einen Beruf zu machen, sie arbeitete als Callgirl.
Die Geschichte dieser Frauen widerlegt das Vorurteil, dass sexuelle Enthaltsamkeit mit Prüderie einhergeht. Angst vor Verletzungen und Enttäuschungen ist es, die viele Frauen am Sex hat zweifeln lassen oder auch die Feststellung, dass niemand dem Vergleich mit dem Ex-Partner standhält, beziehungsweise, dass die eigene berufliche Zukunft an Wichtigkeit gewonnen hat.
Sexueller Verzicht hat im Fall vieler Betroffener nicht gleich die komplette Enthaltsamkeit zur Folge. Die Alternativen: Cyber-Sex, Webcam-Sex, SMS-Sex, Pornographie, Selbstbefriedigung. Sex ist überall verfügbar und käuflich, weshalb auch Mario D. gelegentlich darauf zurückgreift, seitdem seine Freundin an Depressionen leidet. Ob der Mangel an Sex die Qualität des Lebens der Betroffenen beeinträchtigt, ist unterschiedlich.
Während Jens H. die Nähe einer Frau vermisst, ist Thomas P. auf den Austausch von Zärtlichkeiten nicht angewiesen, empfindet ihn fast schon als unangenehm und profitiert davon, dass er seine unverbrauchten sexuellen Energien folglich in andere Bahnen lenken.
Zur Autorin:
Renate Wichers, geb. 1949, lebt in Hamburg und Berlin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Gedichtbände, zuletzt: "Küss deinen kalten Mund", sowie Beiträge in verschiedenen Anthologien und das Buch "Traumlieben" - 15 Geschichten von Frauen zwischen 14 und 80, die von ihren Traumlieben erzählen (Sammlung Luchterhand).
AVIVA - Tipp: Renate Wichers gelingt es, nicht nur Vorurteile und Klischees abzubauen, sondern zugleich hinter die Fassade unserer sexualisierten und enthemmten Gesellschaft zu blicken und kritisch zu hinterfragen, ob die Realität nicht doch ganz anders aussieht.
Renate Wichers
Nie mehr Sex - Leben ohne Liebe?
Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag, erschienen September 2005
ISBN 3-89602-674-7
256 Seiten, Taschenbuch
9,90 Euro90008115&artiId=3712574"