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Beitrag vom 27.02.2006
Die schöne Aussicht von Renate Welsh
Sabine Grunwald
Der eindrucksvolle Roman erzählt das Schicksal eines Frauenlebens im 20. Jahrhundert. Die ungeliebte Rosa wächst zu einer jungen Frau heran, die scheinbar allen Menschen die sie liebt Unglück bringt
Die kleine Rosa wächst als dritte Tochter eines in die Jahre gekommenen Paares auf, das im Wien der dreißiger Jahre eine Gastwirtschaft betreibt. Das Mädchen ist eine unwillkommene Nachzüglerin, und die Mutter schämt sich der späten Geburt.
"Mich dürfte es eigentlich gar nicht geben, dachte Rosa oft. Die Mutter war fünfzig, als sie geboren wurde, ihre älteste Schwester dreißig."
In der Schule quält sich das Kind mit dem Lernen, Sie ist kein schönes Mädchen, die Nase klobig, das Gesicht zu breit, der Körper gedrungen, die Haare strähnig und dann der ewige Geruch nach Wirtshaus. In ihrer Freizeit muss sie zuhause mitarbeiten bis sie als Sechzehnjährige eine Lehrstelle bei Frau Michalik als Weißnäherin antritt. Die anfänglich strenge und zänkische Lehrmeisterin erweist sich später als mitfühlend und hilfreich für das junge Mädchen.
Ihre erste große Liebe und Zuflucht ist der junge Tischlergeselle Josef, der wenig später durch einen tragischen Unfall sein Leben verliert.
Auch bei dieser Tragödie steht ihr Frau Michalik als Einzige tröstend zur Seite. Doch auch diese Stütze endet abrupt, als die Jüdin 1938 ihre Koffer packt und zu Verwandten nach Prag flüchtet.
Alleine und verlassen in der Trostlosigkeit des Elternhauses lernt Rosa den älteren Tischler Ferdinand kennen und heiratet ihn. Der gütige Witwer und das junge Mädchen verstehen sich gut. Doch bald verliert Rosa auch diesen Halt. Der Ehemann ist ein Nazi-Gegner, versteckt Flüchtige und hilft mit Geld und Lebensmitteln. "Wie sehr er ihr ans Herz gewachsen war, wurde ihr erst so richtig bewusst, als sie ihn abholen kamen."
Die verzweifelte Rosa verbringt Stunden vor der Rossauer Kaserne und erfährt von zwei Leidensgenossinnen, dass er nach Mauthausen abtransportiert wurde. Die letzte Nachricht, die sie über den Verschleppten erhält lautet: "Ferdinand Müller geboren am 23.7.1894, Schutzhäftling, verstorben am 8.6.1944 an linksseitiger Lungenentzündung trotz bester medizinischer Versorgung."
Als Rosa ausgebombt wird, nimmt sich die ältere Gusti der heimatlosen jungen Frau an. Gusti, deren behinderter Sohn Karli von den Nazis umgebracht wurde, ist ihre Zuflucht, bis diese an Typhus stirbt.
Nach dem Krieg erhält Rosa die Zusage für eine Gemeindewohnung und eine Anstellung als Schaffnerin der Wiener Verkehrsbetriebe. Hier arbeitet sie verlässlich bis zu ihrer Pensionierung. Danach nimmt sie eine Stelle als Haushälterin an und kocht und bemuttert die drei Söhne, deren Mutter nach einem Unfall bettlägerig ist.
"Eines Tages beim Kaffee überraschte sie sich selbst, als sie von ihrem Enkel Richard zu reden begann. Je länger sie von ihm sprach, umso wirklicher wurde er." Der eingebildete Enkel wird für Rosa immer realer, sie geht mit ihm spazieren und besucht den Prater. Dass die Frau öfter nach Richard fragt, wird Rosa immer lästiger, denn in ihren Augen bleibt er ewig elf Jahre alt.
Mit siebzig kauft sie sich eine Ruhestätte auf dem Neustifter Friedhof mit einer wunderschönen Aussicht. Kurz vor ihrem 80. Geburtstag verbieten ihr die beiden Großnichten, weiter zu arbeiten. Bald darauf stirbt sie friedlich an einem Herzversagen.
In einem Nachwort erzählt die Autorin ihre Bekanntschaft mit Rosa, die jahrelang als Hausangestellte bei ihr arbeitete und den Status einer Ersatzmutter und Wahlverwandten einnahm.
Zur Autorin:
Renate Welsh, geboren 1937 in Wien, studierte Englisch, Spanisch und Staatswissenschaften. Sie schreibt seit 1970 sowohl Kinder- und Jugendbücher, als auch Bücher für Erwachsene. Ihr bewegender Roman basiert auf wahren Ereignissen, die die Autorin selbst erfahren hat. Mit großem Feingefühl und psychologischem Geschick deckt sie die Hintergründe einer Lebenslüge auf. Weiter erschienen: "Das Lufthaus", "Constanze Mozart", "Liebe Schwester".
AVIVA-TIPP: Renate Welsh berichtet über das Leben einer einfachen Frau, die über ihre tragischen Verluste nur schwer hinwegkommt. Zwar machen die Erfahrungen sie zu einer nach außen starken, realistischen Frau, doch in ihrem Inneren spielen die Toten weiter eine wichtige Rolle, bis sie sich einen imaginären Ersatzenkel schafft, der ihr Leben begleitet.
Renate Welsh
Die schöne Aussicht
Kartoniert, 240 Seiten
Dtv premium, erschienen Dezember 2005
ISBN 3-423-24494-1
14 Euro90008115&artiId=3563811"