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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 05.03.2006


Liebe Tante Fori
Sarah Ross

Martin Gilbert hat ein ganz besonderes Buch zur jüdischen Kultur geschrieben. In zahlreichen Briefen erzählt er einer in Indien lebenden Freundin, selbst eine Jüdin, die Geschichte ihres Volkes.




Mit "Liebe Tante Fori. Eine Geschichte der jüdischen Kultur, erzählt in Briefen" erhebt der britische Historiker Martin Gilbert sicherlich nicht den Anspruch, seinen LeserInnen eine allumfassende Enzyklopädie der jüdischen Geschichte und Kultur vorzulegen. Denn die Intention seines Werkes ist vielmehr die, einer engen, 90 Jahren alten Freundin einen Überblick über die Geschichte ihres Volkes zu geben. Sie selbst ist eine ungarische Jüdin, die bereits als junge Frau vor dem Holocaust nach Indien ausgewandert ist.
So schlägt der Autor in seinem eher romanhaft als wissenschaftlich anmutenden Werk einen Bogen von der biblischen über die historische Zeit, bis ins 20. Jahrhundert, und lässt dabei die über 5000 Jahre alte Geschichte des Judentums Revue passieren. Im letzten Kapitel gibt er Tante Fori schließlich auch einen Überblick über die wichtigsten Feiertage im Judentum sowie über den jüdischen Lebenszyklus.

Dem Buch selbst geht eine Jahrzehnte lange und persönliche Geschichte voraus. Alles nahm seinen Anfang, als Martin Gilbert im Jahr 1958 eine ereignisreiche Reise von England nach Indien unternimmt - sein Geschichtsstudium gerade erst beendet. Mit sich trägt er ein Empfehlungsschreiben seines indischen Studienfreundes Ashok Nehru und die Bitte, bei Ankunft in New Delhi seine Mutter zu besuchen.
Als er dort ankommt wird Martin Gilbert schwer krank und findet glücklicherweise in Ashoks Mutter Fori eine liebevolle Krankenpflegerin - und schließlich auch eine enge Freundin. So kommt es, dass der Autor und Tante Fori, wie Gilbert sie von der Zeit an nannte, regelmäßig miteinander in Kontakt stehen. Vierzig Jahre später, als Gilbert Tante Fori zu ihrem 90. Geburtstag erneut besucht, fragt sie ihn, ob er ihr ein Buch über die Geschichte des Judentums empfehlen könne, was Gilbert ein wenig erstaunt.
Da beginnt die "Inderin" ihre Geschichte zu erzählen:

Eigentlich ist Tante Fori eine ungarische Jüdin, die als Magdolna Friedmann 1908 in Budapest geboren wurde, und deren Eltern hoch geschätzte Mitglieder der dortigen jüdischen Gemeinde waren. Die strengen Zulassungsquoten für jüdische StudentInnen an der Universität in Budapest zwingen Magdolna jedoch dazu, als junge Frau nach England zu gehen, um dort zu studieren.
Hier trifft sie 1930 auf den Inder B. H. Nehru, ein Cousin von Jawaharlal Nehru, den sie fünf Jahre später heiratet. Gemeinsam gehen sie nach Indien, wo ihr Ehemann die politische Karriereleiter emporsteigt und sie sich sozial engagiert. Der mittlerweile renommierte Historiker Martin Gilbert, der nun die ganze Lebensgeschichte seiner Freundin kennt, schlägt Tante Fori an dieser Stelle vor, die Ursprünge und die Geschichte des jüdischen Volkes, dem sie selber angehört, lieber in Briefen aufzuschreiben. Erst nachdem der letzte Brief an sie verfasst und an Tante Fori versandt wurde, kommt Gilbert zu dem Entschluss, diese als Grundlage für das vorliegende Werk zu verwenden.

In den einzelnen Briefen durchwandert der Autor also die Jahrtausende alte Geschichte der Juden und ihres Glaubens. Er beginnt beim Schöpfungsakt, durchstreift die gesamte biblische Geschichte mit all ihren markanten Figuren und setzt im zweiten Teil des Buches beim Aufstand der Hasmonäer an. Weiter geht die Reise dann von den Kreuzzügen über die Vertreibung der Juden aus Spanien, über den aschkenasischen Chassidismus im Osteuropa des 17. Jahrhunderts bis hin zur Aufklärung und zu Theodor Herzl. Der dritte Teil beschäftigt sich schließlich mit der jüdischen Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts. Hier schreibt der Autor neben dem Holocaust unter anderem auch über den jüdischen Widerstand, über Gandhi und die Juden und natürlich die Staatsgründung Israels.
Der vierte und letzte Teil des Buches beschreibt eindrucksvoll das jüdische Jahr und seine Feste, sowie den jüdischen Lebenszyklus.

Scheinbar nie die Adressantin seiner Briefe vergessend, räumt Gilbert in seinem Werk den indischen Juden mehr Platz ein als den europäischen Juden, was in der eigentlichen Intention der Briefe seine Berechtigung findet. Denn schließlich beabsichtigte der Autor nicht, eines von unzähligen Werken zu schreiben, das versucht die umfassendste aller Geschichten - nämlich die des Judentums - portionsweise und auf möglichst wenigen Seiten lückenlos darzustellen. Nein. Martin Gilbert schrieb diese Geschichte des Judentums speziell für eine in Indien lebende Jüdin. Und somit ist es viel mehr der Entstehungsprozess und die inhaltliche Struktur des Buches, die durch die zahlreichen Briefe an die "liebe Tante Fori" vorgegeben wird, das, was dem Buch diesen besonderen Charakter verleiht. Daher sind auch einige wenige Ungenauigkeiten bei der Übersetzung und Transkription hebräischer Namen und Ausdrücke sowie zeitgeschichtliche Lücken nur zu gerne zu verzeihen.
Diese zu kritisieren würde an dem eigentlichen Wert des Buches völlig vorbeiführen.

AVIVA-Tipp: Martin Gilberts Buch "Liebe Tante Fori" kann aus der Sicht der Rezensentin zweifelsfrei zu den persönlichsten Geschichten des Judentums gezählt werden, die je geschrieben wurden. Mit diesem Werk liegt eine sehr gut lesbare Einführung ins Judentum vor, die zudem in die interessante und spannende Lebensgeschichte der Hauptfigur Tante Fori sowie in die persönliche Lebenswelt des Autors eingebettet ist. Der Autor hat mit diesem Werk sicher nicht den Anspruch gehabt, an seine bisher viel gelobten wissenschaftlichen Publikationen anzuknüpfen. Für diejenigen LeserInnen, die sich erstmals über das Judentum informieren wollen, bietet das Buch eine gelungene und informative Gesamtschau über die jüdische Geschichte, die Lust macht, mehr zu lernen.

Zum Autor:
Martin Gilbert
wurde 1936 geboren und war lange Jahre Professor in Oxford.
1995 wurde er für seine Verdienste als Historiker geadelt. Er ist einer der intimsten Kenner der jüdischen Geschichte, der bereits zahlreiche Bücher zu diesem Thema veröffentlich hat - unter anderem Jerusalem (1994), Endlösung. Die Vertreibung und Vernichtung der Juden (1995) und Das jüdische Jahrhundert (2001).


Martin Gilbert
Liebe Tante Fori

Eine Geschichte der jüdischen Kultur, erzählt in Briefen
Originaltitel: Letters to Auntie Fori.
Aus dem Englischen von Yvonne Badal
Rowohlt Verlag, erschienen September 2003
ISBN 3-498-02495-7
528 Seiten, gebunden
24,90 Euro90008115&artiId=2490632"



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Beitrag vom 05.03.2006

Sarah Ross